Wir beschlossen, uns in dem Raum, in dem wir saßen, einzuschließen. Bis die Polizei uns räumt. Wir bekamen noch Anweisungen, wie wir uns besonders schwer machen können, wenn sie uns raustragen, und wie man die Fingerabdrücke bei der erkennungsdienstlichen Behandlung verwischt. Die Polizei kam immer näher. Wir sangen gemeinschaftlich Ton-Steine-Scherben -Lieder: „ Das ist unser Haus … “ Doch der Kampf war schon lange entschieden. Polternd schlugen sie mit schwerem Räumgerät an die letzte verbliebene Tür, „ … uns kriegt ihr hier nicht raus …“ . Mit einem lauten Knall zerbrach die Tür in 1.000 Stücke. In voller Panzerung drang die Polizei in unser letztes Rückzugsgebiet ein. Wir hatten uns alle gegenseitig eingehakt. Die wütenden Beamten gingen nicht gerade zimperlich mit uns um. Einer nach dem anderen wurde aus dem Raum getragen. Ängstlich saß ich im Polizeiwagen und erwartete nun U-Haft und einen Gerichtsprozess. Doch nach nur einer Stunde war ich wieder frei. Nicht mal die Finderabdrücke hatte man mir abgenommen. Es gab auch Besetzer, die länger verhört wurden, aber nach ein paar Stunden waren alle wieder frei. Die Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs wurden alle nach kurzer Zeit wieder eingestellt. Der Westen tickte wirklich anders!
Daniela und Geralf mit Hausbesetzertranspi
Grenzüberschreitung — Der wilde Osten stürmt den Westen (Fotomontage)
Kurz vor unserer „Übersiedlung“ nach Westberlin trampten Daniela und ich im Herbst 1989 nach Venedig. Wir wollten noch einmal in den Süden, ins Warme. Uns war bewusst, dass, erst einmal in der Mauerstadt angekommen, Reisen für uns nicht mehr möglich sein würden. Die Transitstrecken durch die DDR durfte ich als Fluchthelfer nicht mehr befahren, Daniela als Republikflüchtige sowieso nicht. Also machten wir uns ein letztes Mal von Braunschweig aus auf den Weg.
Dass der Brennerpass auf unserer Reiseroute lag, wussten wir vorher nicht. In 1370 Metern Höhe verbrachten wir unsere erste Nacht im Freien. Es herrschten Minusgrade und wir froren, aber im Dunkeln konnten wir nicht weitertrampen. Am nächsten Tag nahm uns dann ein Alt-Hippie mit. Die ganze Zeit über fuhr er nie schneller als 50 km/h. Und er fluchte über jeden einzelnen, der ihn überholte. Und es überholten alle!
Als wir in Venedig ankamen, lernten wir einen Punk kennen. Wir fragten ihn nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Er lud uns zu sich ein. Es gibt also doch Zusammenhalt im Westen. Vor einem Bankgebäude deutete er an, dass wir unser Ziel erreicht hätten. Verwundert sahen Daniela und ich uns an. Wir verstanden nur Bahnhof. Er zeigte auf einen Lüftungsschacht, aus dem warme Luft kam. Dann holte er aus einem Versteck einen keimigen Schlafsack hervor und legte sich damit an das Schachtgitter. Nun verstanden wir. Er war obdachlos und bot uns an, in seiner Nähe zu schlafen. So was kannten wir Ex-Ossis nicht. In der DDR lebten alle Punks und andere Aussteiger entweder in still besetzten Wohnungen bzw. Häusern oder noch bei ihren Eltern. Manche hatten auch legale Wohnungen, die sie über die verschiedensten Tricks ergattert hatten, denn auf normalem Weg war es ausgeschlossen, an eine Wohnung zu kommen. Zehn Jahre und mehr dauerten die Wartezeiten. Wer bei seinen Eltern rauswollte, wurde von anderen Punks aufgenommen, bis er selbst eine Bleibe fand. Obdachlosigkeit gab es in der subkulturellen Szene damals nicht. Wir waren geschockt, und wenig begeistert suchten wir uns eine eigene Schlafstätte unter freiem Himmel.
Venedig war für uns sehr exotisch. Die Bauten, die Kanäle mit den Gondeln und der überfüllte Markusplatz. Abgelegen vom Touristenrummel fanden wir die verfallenen Gassen, die in dem ungewöhnlichen Grusel-Thriller Wenn die Gondeln Trauer tragen und Klaus Kinskis Nosferatu in Venedig als Filmkulisse dienten.
An einem Zeitungsladen sahen wir plötzlich Leipzig und Halle (Saale) auf dem Titelblatt. Was da stand, war für uns nicht verständlich, aber die Bilder sprachen für sich. Riesige demonstrierende Menschenmassen mit Plakaten in den Händen, auf denen Reformen und Demokratie gefordert wurden. Wir konnten es kaum glauben. In einer Kneipe lief ein Fernseher. Auch dort dieselben Bilder. In der DDR brodelte es. Und besonders in Leipzig und Halle (Saale). Auch wenn wir nichts verstanden, erkannten wir die Orte sofort, an denen sich diese Ereignisse abspielten.
Geralf auf dem Markusplatz in Venedig
Am Schauplatz des Films „Wenn die Gondeln Trauer tragen“
Oktober 1989 — Trampen nach Venedig
Als wir wieder zurück in Westberlin waren, verfolgten wir jede Meldung über die Montagsdemonstrationen, über die Reformbewegung, über die Massenausreisen. „Wenn es jetzt so in der DDR zugeht, werden die bald Waffen einsetzen. Die Reformbewegung wird blutig niedergeschlagen. Wie in Peking“, dachte ich damals. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 3. und 4.6.1989 verurteilte fast die ganze Welt die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung. Nur wenige Länder, darunter die DDR und die Sozialistische Republik Rumänien mit ihrem Diktator Nicolae Ceauşescu, gratulierten China. Das Politbüro der SED entwarf eine Resolution, in der die DDR ihre Unterstützung für die Niederschlagung der „konterrevolutionären Unruhen“ bekannt gab.
Die Nachricht an die DDR-Bevölkerung war klar. Wenn es hier zu einer ähnlichen Demokratie-Massenbewegung kommt, wird diese mit Gewalt niedergeschlagen.
Seit der Flucht Danielas waren wir auch im Westen auf der Hut vor der Staatssicherheit. Und auch auf der Hut vor den BRD-Beamten. Daniela war minderjährige Republikflüchtige, ich ihr Fluchthelfer. Auf einem Amt hatte man mir erklärt, dass geflüchtete Jugendliche unter 18 Jahren wieder in die DDR abgeschoben werden. Also haben wir einfach das Geburtsdatum von Daniela geändert, sodass sie offiziell volljährig war. Doch wir waren trotzdem vorsichtig und meldeten sie nirgendwo an.
Wir hatten solch eine Angst, dass die Staatssicherheit herausbekommt, wo wir uns aufhielten, dass wir falsche Spuren legten. Ein Telegramm aus Amsterdam: „Wir wohnen jetzt hier. Uns geht es gut. Liebe Grüße…“. Eine Postkarte aus Venedig: „Leben jetzt in Italien…“. Solche Mitteilungen schickten wir aus dem Ausland an unsere Verwandten. Wohlwissend: Die Staatssicherheit liest mit. Der DDR-Geheimdienst sollte nicht herausfinden, wo wir uns wirklich aufhielten. Wir hatten paranoide Angst davor, dass Daniela entführt und zurück in den Osten gebracht werden könnte. Dass diese Gefahr real war, erkannte ich später, als ich die Graphic Novel Todesstreifen: Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989 der beiden Hallenser Dirk Mecklenbeck und Raik Adam las. Selbige, auch in der Hallenser Subkultur großgeworden, wurden von der Stasi verfolgt und waren schließlich nach Westberlin ausgereist. In der Graphic Novel schildern sie ihre Aktionen mit Transparenten und Molotowcocktail-Anschlägen gegen die verhasste Mauer. Ein Fakt bescherte mir besondere Gänsehaut: Sie wurden tatsächlich von einem eingeschleusten IM der Staatssicherheit in Westberlin beobachtet und ausspioniert.
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