Daniela und Geralf im Sommer 1989 in Ungarn im Keleti pályaudvar — der Gedanke an Flucht keimt auf.
Butterfahrt nach Dänemark — Geralf und Daniela
Wieder angekommen in unserer WG, in die wir gerade eingezogen waren, packten wir alles Essbare in den Gemeinschaftskühlschrank, der vor lauter gepökelten Eisbeinen und Wurst und Fleischwaren aller Art fast aus den Nähten platzte. Als unsere Mitbewohner nach Hause kamen, wollten wir gleich mit ihnen zusammen unsere Speisen essen. Doch sie waren vor uns am Kühlschrank. Es folgte ein Entsetzensschrei. Was denn das für fürchterliche Sachen in ihrem Kühlschrank wären. Das müsste sofort alles raus. Sofort! Wir waren verwirrt. Das schöne Westessen. Warum sollte es raus? Wir mussten wieder dazulernen. In der BRD gab es Menschen, die als Vegetarier lebten. So etwas kannten wir aus der DDR nicht. Wie sollte man sich denn bitteschön von Weißkraut und Rotkraut, welches das einzige Gemüse war, das es in der DDR immer gab, ernähren? Auch Obst gab es ja so gut wie nicht zu kaufen. Wir verstanden die Welt nicht mehr. Nicht dass wir uns nicht vorstellen konnten, dass es im Westen möglich war, sich vegetarisch zu ernähren, bei diesem riesigen Warenangebot. Uns verwunderte, dass nicht toleriert wurde, dass wir unser Fleisch im Gemeinschaftskühlschrank lagerten. Nach langer Diskussion gaben wir auf. Wir nahmen die gepökelten Eisbeine und alle Wurst- und Fleischwaren aus dem Kühlschrank und versuchten, sie zu essen. Das meiste davon war fürchterlich und die gepökelten Eisbeine schmeckten wie gesalzenes Leder. Essen konnte man das auf die Schnelle nicht. Lagern konnte man das Fleisch ohne Kühlschrank aber auch nicht. So wurden wir zum ersten Mal Teil der westlichen Wegwerfgesellschaft und schmissen alles in den Mülleimer.
Nach der Flucht: „Große Freiheit“ 1989
Sturm auf der Fähre nach Dänemark
Die Fähre nach England bei Calais
WIE WIR DEM SHAM-69-SÄNGER JIMMY PURSEY BEGEGNETEN
Begierig danach, fremde Länder kennenzulernen, begannen wir auf der Landkarte auszukundschaften, wo die auf DDR-Landkarten nur grau dargestellten Staaten lagen. Rot waren alle Länder des sozialistischen Weltsystems. Grau der Rest. Grau und ohne viel Beschriftungen. Als nächstes wollten wir nach Frankreich. Französischer Punkrock lief in der Ostpunkszene rauf und runter. Ludwig von 88 und Bérurier Noir fehlten bei keiner Party. Auch kannten wir alle Filme mit Louis de Funès. Diese liefen jeden Sommer in den Zeltkinos am Ostseestrand. Das waren genug Gründe, dieses Land zu besuchen. Doch wo lag das besagte Frankreich? Zu DDR-Zeiten waren der Mond, Kolumbien, Kenia, USA, Indien oder Frankreich in etwa dasselbe für uns. Alles unerreichbar. In der Schule lernten wir praktisch nichts über die grauen Gebiete. Nur dass dort die Menschen arm sind und von den Kapitalisten ausgebeutet werden. Und dass die Kinder außerhalb des sozialistischen Staatensystems fast alle hungerten.
Zu unserem Erstaunen grenzte Frankreich direkt an die BRD. Wir schnappten unsere Schlafsäcke und stellten uns an die Autobahn. Den Daumen hoch und schon saßen wir in einem teuren Westgefährt. Der Fahrer stellte seinen Tempomat auf 220 km/h. Ununterbrochen bremste das Fahrzeug ab. Nur den Anschnallgurten war es zu verdanken, dass wir nicht durch das Auto flogen. Er schimpfte wie ein Rohrspatz auf die Autofahrer, die es wagten, nur 120–180 km/h auf der Überholspur zu fahren. „Dich zeige ich an, du Arschloch! Wer hat dir denn das Autofahren beigebracht?“ Währenddessen schrieb er sich einhändig die Nummernschilder besagter Wagen auf. Uns wurde angst und bange! An einer Raststätte irgendwo im tiefsten Westen ließ er uns schließlich raus. Uns war kotzübel. Während wir nach Luft schnappten, kam ein bunter Kleinbus auf die Raststätte gefahren. Aus ihm stiegen einige Punks. Wir gingen sofort auf einen zu und fragten, ob sie uns mitnehmen könnten. Der nette ältere Punk antwortete irgendwas auf Englisch. Diese Sprache war für Ostdeutsche genauso fremd wie Chinesisch. In der DDR war Russisch das Sprach-Pflichtfach. Der Punk nuschelte irgendetwas und wir filterten die Namen Sham 69 und Jimmy Pursey aus dem Kauderwelsch heraus. „Ah, ihr fahrt zum Sham-69 -Konzert. Könnt ihr uns mitnehmen?“, fragten wir. „No, we are Sham 69 . I’m Jimmy Pursey“, antwortete er. Wir verstanden nichts, waren uns aber sicher, dass diese Punks mit ihrem Kleinbus zu einem Sham-69 -Konzert fahren würden. Wir erklärten, dass wir frisch aus der DDR kamen. Das verstand einer der englischen Punks und horchte interessiert auf. Nach weiteren zehn Minuten des Erklärungsversuchs bezüglich ihrer Identität ging der ältere Punk zum Kleinbus. Er kam mit zwei Sham-69 -T-Shirts in der Hand zurück. Dann drückte er uns lächelnd die Kleidungsstücke in die Hand und zeigte auf sich: „I’m Jimmy Pursey.“ Dann wies er auf die restlichen Punks aus dem Kleinbus. „We are Sham 69 .“ Nun verstanden wir es. Wir standen vor der Kultband Sham 69 aus England. Wahnsinn! Anfang der 80er hatte ich die ersten Songs von Sham 69 bei der John-Peel-Session im britischen Radio mitgeschnitten. Nun standen wir vor dieser Band. Der Kleinbus war voll. Aber Jimmy Pursey lud uns nach England ein. Zu einem Festival, auf dem sie spielten. Er schrieb eine Adresse auf. Wir könnten bei ihm wohnen. Der Bus fuhr weiter und wir blieben zurück mit unseren Sham-69 -T-Shirts in der Hand und neuen Plänen im Kopf. Wir fahren nach Großbritannien! Zu unserem ersten britischen Punkfestival und zu Jimmy Pursey. Wahnsinn! Wo liegt denn eigentlich England? Wir fanden heraus, dass es gleich an Frankreich grenzt. Na klar. Der französische Freibeuter Robert Surcouf, der „Tiger der sieben Meere“, hatte in meiner Kindheit in der Fernsehserie Das Wappen von Saint Malo ja immer auf hoher See mit den Engländern gekämpft.
Frankreich 1989
Am Strand in Calais
Geralf 1989 mit Jimmy Purseys Sham-69-T-Shirt
Wir trampten nach Calais. Dort gab es eine neue Hürde. Das Meer versperrte den direkten Weg nach Großbritannien. Aber von hier fuhr eine Fähre. Wir waren unserem Ziel verdammt nah. Doch die Fährtickets waren für uns unerschwinglich. Unser Geld reichte einfach nicht. Wir schliefen mehrere Nächte in Calais am Strand und hofften auf irgendeine glückliche Fügung. Doch es fügte sich nichts. Unser Geld reichte nicht. Traurig gaben wir auf und trampten irgendwann zurück nach Braunschweig. Aber wenigstens hatten wir Frankreich gesehen. Und wir hatten Schätze im Gepäck. Zwei Sham-69 -T-Shirts und die Adresse von Jimmy Pursey.
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