1.6 Differenzierter Führungsansatz auf Basis des Reifegradmodells
Reifegrad in Bezug auf die Arbeitsaufgabe beachten 
Eine wichtige Weiterentwicklung dieses zweidimensionalen Führungsstilmodells ist der differenzierte Reifegradansatz, der in den 1980er Jahren von den Wissenschaftlern Paul Hersey und Kenneth Blanchard erarbeitet wurde. Er fordert Führungskräfte auf, ihren Führungsstil an den Reifegrad der Mitarbeitenden – bezogen auf die jeweilige Aufgabe – anzupassen. Mit dem Satz »Ungleiche Wesen gleich zu behandeln, ist nicht Gerechtigkeit, sondern Gleichmacherei« (Blanchard, 1995), lässt sich die Grundüberlegung dieses Ansatzes zusammenfassen. Werden Menschen nicht entsprechend ihrer Reife in Bezug auf ihre Arbeitsaufgabe geführt, kann sie das einerseits überfordern, wenn sie zu früh zu selbstständig arbeiten sollen. Andererseits können Unzufriedenheit oder Demotivation entstehen, wenn sie bereits sehr eigenständig sind, aber nicht selbstständig arbeiten dürfen.
Differenziertes Führungsverhalten basiert im Klinikalltag auf drei Schritten:
1. Definieren und Beschreiben der Aufgabe.
2. Ermitteln und Einschätzen des Reifegrades jedes/jeder Mitarbeitenden für diese Aufgabe.
3. Das an den individuell ermittelten Reifegrad angepasste Führungsverhalten auswählen, abstimmen und anwenden.
1.6.1 Das Reifegradmodell
Der Reifegrad ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Motivation/Selbstvertrauen und Fachwissen/Erfahrung. Aufgrund der Ausprägung von niedrig bis hoch ergeben sie vier Grundformen:
Unterschiedliche Reifegrade führen zu unterschiedlichen Bedürfnissen 
Je nach Reifegrad haben Mitarbeitende unterschiedliche Bedürfnisse an das Führungsverhalten ihrer/ihres Vorgesetzte*n. Diese verschiedenartigen Bedürfnisse sind von folgenden Hauptmerkmalen gekennzeichnet (in Anlehnung an Kenneth Blanchard):
Tab. 5: Die vier Reifegrade
Die vier Reifegrade
Mitarbeitende in Reifegrad 1 brauchen …
• Akzeptanz, Begeisterung und Einbeziehung der übertragbaren Fähigkeiten
• Richtlinien darüber, wie gute Arbeit aussieht
• Informationen darüber, wie Leistung beurteilt wird
• Informationen über die Aufgabe und das Unternehmen
• Training »on the job«
• Aktionspläne: Anweisung über das Wie, Wann und mit Wem
• Zeitvorgaben und Prioritätensetzung
• Einschränkungen und Begrenzungen von Autorität und Verantwortlichkeit
Mitarbeitende in Reifegrad 2 brauchen …
• bei gleichzeitig hoher Unterstützung die klare Ansage: »Ich rede mit Ihnen nicht mehr über das ›Ob‹, sondern nur noch über das ›Wie‹.«
• strukturierte Aus-, Fort- und Weiterbildung
• Perspektive, Ausblick
• die Gewissheit, dass Fehler gemacht werden dürfen
• Erklärungen über das Warum
• Möglichkeiten, über Bedenken zu reden
• Beteiligung an Entscheidungsfindungen und Problemlösung
• Ermutigung
Mitarbeitende in Reifegrad 3 brauchen …
• erreichbare Mentor*innen oder Coaches, die »aktiv« zuhören
• Möglichkeiten, über Bedenken zu reden
• Unterstützung und Ermutigung bei der Entwicklung von Problemlösungsfähigkeiten
• Hilfe bei der objektiven Betrachtung der Fertigkeiten, um Selbstvertrauen aufzubauen
• Beseitigung von Hindernissen bei der Zielerreichung
• Zutrauen
Mitarbeitende in Reifegrad 4 brauchen …
• vielfältige und herausfordernde Aufgaben
• eine Führungskraft, die eher Mentor*in und Kolleg*in als Chef*in ist
• Anerkennung für Erreichtes
• Selbstständigkeit und Kompetenz
• Vertrauen
1.6.2 Die Analyse des Reifegrades
Stärken erkennen und mit der Aufgabe in Übereinstimmung bringen 
Die Analyse des Reifegrades eines/einer Mitarbeitenden für eine Aufgabe erfolgt immer im persönlichen Dialog – unabhängig davon, ob sie in einem Vier-Augen-Gespräch oder während eines Zielvereinbarungs- bzw. Mitarbeiterjahresgespräches stattfindet. Dabei geht es in erster Linie um die Nutzung und den Ausbau vorhandener Stärken und nicht – wie vielfach angenommen – um die Ermittlung und Beseitigung von Schwächen. Die Analyse des Reifegrades verfolgt zwei wichtige Ziele:
1. Die Stärken des/der Mitarbeitenden zu erkennen.
2. Die Stärken mit der Aufgabe zur Deckung zu bringen.
Denn nur wenn vorhandene Stärken zur Arbeitsaufgabe passen, lässt sich ein*e Mitarbeitende*r in Reifegrad 1 zu einem Spitzenkönner mit Reifegrad 4 entwickeln.
Fragen zur Ermittlung des Reifegrades 
Neben der Beurteilung des im täglichen Arbeitshandeln von der Führungskraft beobachteten Fachwissens, unterstützen folgende Fragen die Erhebung des Reifegrades:
1. Schlüsselfragen:
Was brauchen Sie von mir,
• damit Sie diese Aufgabe erfolgreich umsetzen können? Oder:
• damit Sie dieses Ziel erreichen können?
2. Fragen zu den Reifegradfaktoren:
Fachwissen/Information
• Welche Informationen brauchen Sie von mir?
• Welches Fachwissen brauchen Sie von mir?
Erfahrungen/übertragbare Fähigkeiten
• Welche Erfahrungen können Sie nutzen?
• Welche übertragbaren Fähigkeiten können Sie nutzen?
Motivation
• Wie viel Spaß, Freude und Lust haben Sie an dieser Aufgabe?
• Wie viel Spaß, Freude und Lust haben Sie, dieses Ziel zu erreichen?
Selbstvertrauen
• Inwieweit trauen Sie es sich zu, diese Aufgabe zu erledigen?
• Inwieweit trauen Sie es sich zu, dieses Ziel zu erreichen?
1.7 Führen über das Gespräch
Wie bereits mehrfach beschrieben, ist Kommunikation das einzige Mittel, das Führungskräfte haben, um ihre Mitarbeitenden zu führen und zu entwickeln. Regelmäßige Gespräche und Besprechungsroutinen sichern die Weitergabe von Informationen über
• Prozesse
• Abläufe und Strukturen
• Probleme
• den Stand der Zielerreichung
Sie geben Orientierung, Klarheit und sorgen so für Identifikation mit der Klinik.
Den Grad der Bindung zwischen Mitarbeitenden und Führungskraft ermitteln 
Um die ohnehin knappe Führungszeit noch gezielter einzusetzen, hat sich in der Praxis das Modell der Bindungsanalyse (
Abb. 4) bewährt. Mit diesem Führungsinstrument lassen sich die Nähe bzw. der Abstand zwischen Führungskraft und einzelnen Mitarbeitenden bestimmen. Je weiter abseits ein Teammitglied steht, umso intensiver muss die Führungskraft mit ihm/ihr ins Gespräch kommen.
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