Die Verwirklichung des Energiebinnenmarktes für Strom und Gas war seit dem Vertrag von Maastricht 1992 bis zum 3. Energiebinnenmarktpaket 2009 das dominierende strategische Ziel der Europäischen Union. Dieses Ziel war nun weitestgehend erreicht.
Demnach kann in weiterer Folge das Augenmerk auf die weiteren drei primären Ziele der Energiepolitik der Europäischen Union und deren Entwicklung von der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2016 gelegt werden:
• Nachhaltigkeit
• Wettbewerbsfähigkeit
• Versorgungssicherheit
Das Ziel der Wettbewerbsfähigkeit ist zentrales Element der Verwirklichung des Energiebinnenmarktes für Strom und Gas. In ihm ist das Ziel der Wirtschaftlichkeit implizit enthalten, da nach Ansicht der EU der Energiebinnenmarkt eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Marktes bringt und damit der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft helfen wird, die Preise so niedrig wie möglich zu halten und die Angebotsstandards für die Kunden zu erhöhen.
Daher wird in den nächsten beiden Kapiteln die Entwicklung der Energiepolitik der Europäischen Union hinsichtlich der Ziele Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit in der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft bis zum Jahr 2016 dargestellt, wobei festgestellt werden kann, dass die Verwirklichung des Energiebinnenmarktes auch erhebliche positive Effekte auf das Ziel der Versorgungssicherheit hat, da viele Vorschriften der Binnenmarktpakete auch gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen zur Vermeidung einer Unterbrechung der Energieversorgung vorsehen.
DIE UMSETZUNG DER VERSORGUNGSSICHERHEITSZIELE BIS 2016
Das Ziel der Sicherstellung der energiepolitischen Versorgungssicherheit war seit Anbeginn des europäischen Integrationsprozesses im Jahr 1951 ein zentrales europäisches Thema. Über lange Jahrzehnte war es jedoch auf die beiden wichtigsten Primärenergieträger Kohle und Erdöl beschränkt. Erst mit dem Vertrag von Maastricht 1992 und den ab dann entwickelten energiepolitischen Zielen der Europäischen Union rückte die Elektrizitäts- und Gaswirtschaft in den Fokus. Nachfolgend werden die für diese beiden Bereiche der Energiewirtschaft relevanten Entwicklungen dargestellt.
Im Grünbuch der Kommission vom 29. November 2000 „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ 50wird zunächst vor allem die Gefahr der Importabhängigkeit Europas von fossilen Energieimporten aus Russland und dem Nahen Osten angesprochen. Interessant ist, dass bereits in diesem Dokument Maßnahmen zur Eindämmung des Energieverbrauchs und Investitionen in erneuerbare Energien unter dem Gesichtspunkt der Erhöhung der Versorgungssicherheit diskutiert werden.
Ein bedeutender Rechtsakt der Europäischen Union ist die Richtlinie vom 18. Jänner 2006 über Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung und von Infrastrukturinvestitionen. 51In dieser werden Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung festgelegt. Insbesondere geht es um Fragen ausreichender Erzeugungskapazitäten, der Stabilität des Netzes und der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander.
Dazu stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Übertragungsnetzbetreiber Mindestbetriebsregeln und -verpflichtungen für die Netzsicherheit festlegen, sie gewährleisten außerdem, dass zusammengeschaltete Übertragungsnetzbetreiber rechtzeitig und effizient Informationen über den Betrieb der Netze austauschen, und verpflichten sie, die Verfügbarkeit angemessener Erzeugungskapazitätsreserven für Ausgleichszwecke zu gewährleisten.
Die Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht erfolgte in Österreich am 23. Mai 2006 mit dem Energie-Versorgungssicherheitsgesetz 2006 52.
Neben der Sicherheit der Elektrizitätsversorgung im täglichen Betrieb sind aus Gesichtspunkten der Versorgungssicherheit selbstverständlich auch der Schutz und die Sicherung der Erzeugungsanlagen, Umspannwerke und Stromnetze selbst von großer Bedeutung, und zwar insbesondere dann, wenn sie der so genannten „kritischen Infrastruktur“ zuzurechnen sind.
Am 12. Dezember 2006 legte die Kommission 53ihre Grundsätze und Instrumente dar, die zur Umsetzung des Europäischen Programms für den Schutz kritischer europäischer und nationaler Infrastrukturen (EPSKI) erforderlich sind. Das Programm ist unter seinem englischen Namen, European Programme for Critical Infrastructure Protection (EPCIP), besser bekannt. Das Programm sollte unter anderem folgende Komponenten haben:
• Ein Verfahren zur Ermittlung und Ausweisung kritischer europäischer Infrastrukturen und ein gemeinsames Konzept für die Bewertung der Notwendigkeit, den Schutz derartiger Infrastrukturen zu verbessern.
• Maßnahmen zur Erleichterung der Durchführung des Programms einschließlich eines Aktionsplans, eines Warn- und Informationsnetzes für kritische Infrastrukturen, der Einsetzung von EU-Sachverständigengruppen zu Fragen des Schutzes kritischer Infrastrukturen, des Austauschs von Informationen sowie der Ermittlung und Analyse von Abhängigkeiten.
• Unterstützung der Mitgliedstaaten im Bedarfsfall im Hinblick auf die Sicherheit kritischer nationaler Infrastrukturen.
Der erste Punkt wurde mit der Richtlinie des Rates vom 8. Dezember 2008 54über die Ermittlung und Ausweisung europäischer kritischer Infrastrukturen und die Bewertung der Notwendigkeit, ihren Schutz zu verbessern, umgesetzt. Die Richtlinie gibt Parameter für die Bestimmung europäisch kritischer Infrastrukturen vor, fordert die Erstellung von Sicherheitsplänen und die Bestimmung von Sicherheitsbeauftragten und normiert ein entsprechendes Berichtswesen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Definitionen des Rates, was unter einer kritischen Infrastruktur von nationaler und europäischer Bedeutung zu verstehen ist:
• „Kritische Infrastruktur“: die in einem Mitgliedstaat gelegene Anlage, ein System oder ein Teil davon, die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen, der Gesundheit, der Sicherheit und des wirtschaftlichen oder sozialen Wohlergehens der Bevölkerung sind und deren Störung oder Zerstörung erhebliche Auswirkungen auf einen Mitgliedstaat hätte, da diese Funktionen nicht aufrechterhalten werden könnten.
• „Europäische kritische Infrastruktur“ oder „EKI“: eine in einem Mitgliedstaat gelegene kritische Infrastruktur, deren Störung oder Zerstörung erhebliche Auswirkungen in mindestens zwei Mitgliedstaaten hätte. Die Tragweite dieser Auswirkungen wird anhand sektorübergreifender Kriterien bewertet. Dies schließt die Auswirkungen sektorübergreifender Abhängigkeiten auf andere Arten von Infrastrukturen ein.
Das österreichische Hochspannungs-Übertragungsnetz der APG und die Erdgasstation Baumgarten sind nach diesen Kriterien jedenfalls „europäische kritische Infrastruktur“ im Sinne der Richtlinie.
Österreich hat in weiterer Folge bereits im Jahr 2008 mit Beschluss der Bundesregierung vom 2. April 2008 das erste österreichische Programm zum Schutz kritischer Infrastrukturen (Masterplan APCIP 2008) und im Jahr 2014 mit Beschluss des Ministerrats vom 4. November 2014 den neuen Masterplan APCIP 2014 angenommen 55, der auch die Bundesländer auffordert, Programme zum Schutz regionaler Infrastrukturen zu erstellen.
Die Bedeutung der Übertragungsnetze als „europäische kritische Infrastruktur wurde von der Kommission im Jahr 2013 nochmals explizit bestätigt, als sie die bisherigen Umsetzungsergebnisse des EPCIP analysierte und in einem so genannten „Staff Working Docoment“ die weitere Vorgehensweise skizzierte: “The Electricity Transmission Grid and the European Gas Transmission Network are networks without national boundaries, which mean that a failure of one portion of the network could propagate to other areas, potentially involving several countries.” 56
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