Bedeutungen entstehen aus der Kraft des Wünschens. Dies lässt sich an Kindern, die mit dem Sprechen gerade erst beginnen, leicht erkennen. Wünsche haben die überlebenstechnisch unentbehrliche Funktion, ein Lebewesen mit einer grundlegenden Orientierung zu versehen. Das Lebewesen Mensch hat es kraft seiner natürlichen Sprechfähigkeit und seiner hohen Sozialbegabung dahin gebracht, das Wünschen ins Sprachliche zu verlängern und auf diese Weise eine Welt zu imaginieren, die aus Bedeutungen besteht. Die hier vorgelegte Konzeption versteht sich als eine zu Ende gedachte Gebrauchstheorie der Bedeutung, wie sie von Wittgenstein vorgetragen wurde: Bedeutungen sind Phantasieprodukte, die nicht buchstäblich existieren müssen – es genügt, dass Menschen ihr Leben gestalten, indem sie damit umgehen.
Axel Hecker, geboren 1952, ist Literaturwissenschaftler und Philosoph. Er arbeitet in der IT-Industrie und ist seit über 20 Jahren Geschäftsführer einer Softwarefirma.
Axel Hecker Wunsch und Bedeutung
Grundzüge einer naturalistischen Bedeutungstheorie
Deutsche Erstausgabe
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/abrufbar.
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ISBN 978-3-7092-0415-3
eISBN 978-3-7092-5041-9
© 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Grafisches Konzept: Ecke Bonk
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„Kannitverstan“: Ich kann nichts verstehen
Naturgeschichte des Sprechens
Sprechen als gestische Kommunikation (George Herbert Mead)
Die Geste als Anfang einer Handlung
Denken als verinnerlichtes Sprechen
Ontogenese des Sprechens
Die Chomsky-Hypothese
Entwicklungspsychologie
Joint Attention
Wunsch als Motor des Sprechens
Ereignischarakter des Semantischen
Phylogenese des Sprechens
Evolution der Sprachmaschine?
Wiedergewinnung einer genetischen Perspektive (M. Tomasello)
Ungereimtheiten der beiden key steps sprachlicher Evolution
Syntax und Musik
Was ist eine primitive Sprache?
Archäologie des Sprechens
Extensionalität und Konditionierung
Spracherwerb als „Abrichtung“ (Wittgenstein)
Das Privatsprachenargument
Bedeutung als soziale Präokkupation
Kulturelle Evolution
Die Konstituierung des Dings: Wunsch und Ästhetik
Unverzichtbarkeit eines Identifizierungsrahmens?
Wunsch und Disziplinierung
Ästhetik
Bedeutung als transzendentale Illusion
Wissen, was man meint?
Autorität der ersten Person?
Token und Type
Welt als behandelbare Objektivität
Epilog
Anmerkungen
Literatur
Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
Ludwig Wittgenstein
Die strengere Praxis geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.
Friedrich Schleiermacher
Man soll beim Thema Bedeutungstheorie nicht vom Verstehen, sondern vom Nicht-Verstehen ausgehen. Wenn man verstanden hat, ist die Luft raus, es gibt nichts mehr zu sagen – es sei denn in Form von Kreisen, die man in sich selber zieht (Hermeneutik), oder von blanken Konstruktionen (Idealismus). Das Nicht-Verstehen dagegen eröffnet einen ganzen Hof von Möglichkeiten, damit umzugehen. Ohne das Nicht-Verstehen wäre vermutlich nie jemand auf die Idee gekommen, über das Verstehen nachzudenken.
Die Perspektive einer naturalistischen Bedeutungstheorie steht für die größtmögliche Provokation des Verstehens: In einer naturwissenschaftlich beschriebenen Welt wäre gar kein Platz für „Bedeutungen“, sofern man darunter etwas anderes versteht als maschinentheoretische Elaborate einer auf dem Reißbrett konstruierten Intelligenz, wie sie im Rahmen der sogenannten Philosophie des Geistes vorgetragen werden (Fodor et al.).
Es geht also darum, diese beiden Klippen zu vermeiden: die Klippe einer geistigen Sattheit, die beim Verstehen immer schon angekommen ist, ohne ernstlich darüber Rechenschaft geben zu können oder zu wollen, und die Klippe einer blanken Natur , die zu wohlfeilen Reduktionismen einlädt.
Ich danke Dr. Achim Engstler für unermüdliche Gegenlektüren und wertvolle Hinweise sowie meiner Frau Dr. Marita Rödszus-Hecker „without whom not“. Das Buch ist gewidmet: Prof. Dr. Wolfgang Brehm †.
„Kannitverstan“: Ich kann nichts verstehen
Herr Kannitverstan besitzt ein prächtiges Haus und ein gewaltiges Schiff, aus dem kostbare Waren entladen werden. Leider endet sein Leben allzu rasch, da schon an der nächsten Ecke ein Leichenzug auftaucht, der ihn zu Grabe trägt.
„Kannitverstan“ – diese Geschichte, die Johann Peter Hebel in seine Erzählungen des rheinischen Hausfreundes aufgenommen hat, handelt vom Verstehen und davon, dass auch das Missverstehen eine Portion Weisheit enthalten kann. Der von einer südbadischen Kleinstadt nach Amsterdam verschlagene Handwerksbursche versteht, dass noch das glänzendste Leben vergänglich ist. Der Witz der Geschichte besteht aber darin, dass der Handwerksbursche in Wahrheit nichts verstanden hat, ja niemand überhaupt etwas versteht, da seine Gesprächspartner jederzeit nur ihr Unverständnis erklären: „Ich kann nichts verstehen“. Jemand versteht etwas, obwohl die Verständigung unter den Beteiligten jederzeit scheitert.
Wie wäre es – so wird im Folgenden gefragt -, wenn sich dieses Prinzip verallgemeinern ließe? Wenn alles vermeintliche Verstehen sich einem starken Glauben an die Stabilität von Bedeutungen verdankte, der sich über einem Bodensatz semantischer Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten hartnäckig hält?
Es ist diese, zugegeben, brisante Auffassung vom Verstehen, für die im Folgenden plädiert wird. Brisant deshalb, da sie dem gesunden Menschenverstand und auch sich selbst zu widersprechen scheint: Weiß ich etwa nicht, was ich meine, wenn ich spreche? Wo soll es hinführen, das Verstehen zu bestreiten, wo doch der Autor dieser Zeilen es nicht unterlässt, Wörter zu benutzen, also dabei doch offenbar Leser im Auge hat, die verstehen sollen, was da geschrieben steht?
Es geht also um die Frage nach dem Verstehen, nach der „Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ ( meaning of „meaning“ ). Ich behaupte: Diese Frage ist noch nie in befriedigender Weise beantwortet worden. Klassische Antworten sind: ein Bedeutungs- und Begriffsrealismus, wie er gutgläubig im Mittelalter vertreten wurde, der jedoch bis tief in die heutige analytische Philosophie hinein Spuren hinterlässt, wenn diese erklärt, Begriffe „analysieren“ zu können – ungefähr wie man eine Laborprobe analysiert; die Auffassung von Bedeutungen als Konvention – meines Erachtens eine Leererklärung, eine Tautologie; und schließlich ein Agnostizismus der Bedeutung, wie man ihn prominent von Quine vertreten findet, 1der zwar dem, was im Folgenden dazu gesagt wird, in der Tendenz nahekommt, der aber im Grunde nur eine Kapitulation vor dem Problem darstellt.
Statt die Frage nach dem Verstehen und nach der „Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ frontal anzugehen, wird hier ein indirekter Weg eingeschlagen. Und zwar lautet die Frage, die hier zunächst betrachtet wird: Wie sind Bedeutungen in einer natürlichen Welt möglich? Wie könnten sie in einer solchen natürlichen Welt entstanden sein? Was auch immer Bedeutungen sind , es muss ja, so sollte man meinen, möglich sein, darüber etwas zu sagen, das mit den Annahmen einer natürlichen, empirisch beschreibbaren Welt vereinbar ist. Das Ziel dieser Betrachtung ist aporetisch: Zwar lässt sich eine Reihe plausibler Vermutungen darüber anstellen, wie das Sprechen im Zuge der Evolution der menschlichen Art auf natürliche Weise entstanden sein könnte. Aber was dabei entstanden ist, bleibt schlechterdings unvereinbar mit dem, was wir intuitiv meinen, wenn wir uns diejenigen Bedeutungen vergegenwärtigen, die unser Sprechen und Denken hat. Welche Konsequenzen das hat, wird anschließend betrachtet.
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