Es war stockdunkel. Wegen des Verdunkelungsgebots durfte auch während der Rettungsarbeiten kein Licht gemacht werden. Wer Licht machte, konnte schwer bestraft werden. Aber vielleicht wäre es mit Licht auch noch schlimmer geworden. Jedes Licht wäre durch das große Loch im Kirchendach und durch die Kirchenfenster nach draußen gedrungen und hätte möglicherweise weitere Angriffe folgen lassen. In dieser Dunkelheit konnten bloß eine Handvoll Leute ausgegraben werden. Einer davon war ich. Wie viele es wirklich waren, habe ich nie erfahren.
Dann setzt meine Erinnerung aus. Ich erinnere mich erst wieder an das Morgengrauen. Man hatte mich in den unzerstörten öffentlichen Luftschutzkeller gebracht und dort zwischen zwei Ordensschwestern auf eine Holzbank gesetzt. Seit Stunden waren keine Schüsse mehr zu hören gewesen, deutsche Soldaten waren nicht mehr zu sehen. Einige Frauen aus dem Keller hatten die Feuerpause genutzt und aus einem unbewachten Proviantlager der Nazis Ölsardinen ergattert. Sie drückten mir eine davon in die Hand. Nun hatte ich etwas zu essen! Eine ganze Dose mit Ölsardinen für mich ganz allein! Wir hatten alle unsere knappen Reserven aufgebraucht – es herrschte Hunger. Noch heute weckt der Duft einer gerade geöffneten Dose Ölsardinen in mir Erinnerungen an diesen Tag. Obwohl ich sie eher selten esse, lagern stets einige Dosen davon in meinem Lebensmittelvorrat.
Viele Leute hatten am Morgen die Kellerräume verlassen, waren auf den Hof gegangen oder unterstützten die Bergungsarbeiten. Plötzlich stürmten alle wieder in den Keller, mit dem Ruf: »Die Russen kommen!« Vier oder fünf fremdartig aussehende Soldaten in verschmutzten Uniformen mit Kalaschnikows in den Händen kamen die Kellertreppe runter. Zwei blieben am Kellereingang stehen, die anderen gingen durch die Räume und musterten jede einzelne Person eingehend. An den Kindern und Nonnen gingen sie wortlos vorbei. Nachdem alle Personen kontrolliert waren, teilte einer der Russen in gebrochenem Deutsch mit, dass der Krieg zu Ende sei und wir nun alle wieder in unsere Wohnungen zurückkehren könnten.
Oben im Hof sah ich zu, wie im Tageslicht in den Trümmern weiter nach Überlebenden gesucht wurde. Soweit ich weiß, fanden sie noch ein oder zwei Verletzte. Ansonsten fanden sie nur Leichen oder Teile davon.
Als Kind war ich nicht in der Lage, nach meiner Familie zu fragen. Ich hatte überlebt, aber ich sah diese Person nicht mehr und auch diese nicht mehr. Ja, dann waren die nicht mehr da. Meine Mutter war nicht mehr da, meine Geschwister waren nicht mehr da … (Die Stimme versagt ihm.) Die sind alle umgekommen.
Ich erinnere mich, wie die Suchenden Leichenteile in Bettlaken und Tischdecken einwickelten. Oben machten sie einen Knoten in die Bündel, damit die keiner sehen musste. Es war nicht so wie heute: Man ruft die Feuerwehr, und die kommt gleich. Es gab nur noch Zivilisten, die dafür nicht ausgebildet waren. Sie legten die Leichen am Rande des Hofes auf die Erde, damit sie identifiziert werden konnten. Die Erwachsenen versuchten, mich von der Suche wegzuhalten, aber das klappte nicht. Wie sollten sie es auch machen? Alles war zerstört. Es konnte mich keiner die ganze Zeit an der Hand halten. Der Hof war ja mein Zuhause. Jedes Mal, wenn ich wieder in den Hof kam, lagen neue Leichen aufgereiht. Sie waren voller Dreck und Staub und mussten erst abgefegt werden, damit die Angehörigen sie erkennen konnten. Ich erinnere mich noch an die Gespräche im Hof.
»Na, wen haben wir denn da gefunden?«
»Na Frau sowieso.«
»Ach Gott, die auch … und die Tochter auch noch …«
Ich bekam schnell mit, dass meine Mutter und meine Geschwister tot waren. Die Mutter war nicht mehr da, die Geschwister waren nicht mehr da … Aber hier (er zeigt auf den Kopf) ist das nicht angekommen. Ich sah meine Mutter dann auf dem Hof liegen. Ich erkannte ihr Kleid, ein helles Kleid mit einem Muster von kleinen Karos in Grün- und Blautönen. Jemand, der da lag, hatte dieses Kleid an, also war das meine Mutter … Die Menschen hatten im Keller meistens ihre guten Kleider getragen, die sie retten wollten, das neueste Kleid oder den besten Anzug. Und im Koffer hatten sie nur das Allerwertvollste runtergetragen. Meine Mutter hatte für meine Erstkommunion über Bezugskarten das neue Kleid mit dem Karomuster bekommen. Daran erinnerte ich mich auf dem Hof sofort, als ich sie dort liegen sah. Von meinen Geschwistern sah ich nichts. Später erfuhr ich von den Nachbarskindern mehr. Kinder haben ja immer solche Ohren und erzählen sich alles untereinander weiter, was sie von den Erwachsenen aufschnappen. Meine kleine Schwester Monika war wohl mit dem Kinderwagen umgekippt, in dem sie geschlafen hatte. Sie war völlig unverletzt gewesen und muss erstickt sein. Meine Mutter war zwischen Trümmern eingeklemmt gewesen und konnte sich nicht befreien. Von meinem Bruder weiß ich nichts. Das kann so stimmen, muss aber nicht.
Auf dem Pfarrhof wurde später eine Grube ausgehoben, in der alle Toten beerdigt wurden. Ich erinnere mich, dass die Leute noch Wochen in den Trümmern wühlten. Von Zeit zu Zeit wurde das Grab wieder geöffnet und wieder ein Bündel mit Leichenteilen beerdigt. Es waren dann nur noch Leichenteile – Arme und Beine –, richtige Menschen fanden sie nicht mehr. Einmal hatte ich in den Trümmern die Überreste eines beigefarbenen Kinderwagens gesehen. Erst viel später wurde mir bewusst, dass es sich um den Wagen gehandelt haben musste, in dem meine kleine Schwester gestorben war, denn es gab nur den einen Kinderwagen in der Krypta.
Als Siebenjähriger machte ich mir Gedanken: ›Haste denn da nun was entheiligt? Hättste da gar nicht zum Altar hochgehen dürfen? Das ist ja dem Pfarrer oder der Geistlichkeit vorbehalten, und du bist einfach da hingegangen, wo du nichts zu suchen hast! Mensch, das hättste nicht machen sollen, jetzt ist der liebe Gott vielleicht ganz böse, dass du da rumgeklettert bist.‹ Als Kind deutete ich das Ereignis ganz anders. Es ist aber auch eine Gnade, dass man in dem Alter noch nicht alles begreifen kann – mit sieben Jahren …
Irgendwann kam der Alltag wieder. Inzwischen war es Mai. Die ersten Vögel saßen in den grünen Laubbäumen im Pfarrhof und zwitscherten. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass einer nicht begriffen hat, wie die Welt einfach so weitergehen konnte … (Er weint.) Jetzt muss ich sagen, es war so. Die Vögel zwitscherten, und wir Kinder spielten wieder auf dem Hof. Trotzdem war für mich nichts mehr wie vorher.
Die Russen hatten mittlerweile mit ihren Ponys in unserem Hof Station gemacht. Der ganze Hof war voller Pferdeäpfel. Wir Kinder wollten die Ponys streicheln, aber das durften wir nicht. Anscheinend waren sie bissig oder an Kinder nicht gewöhnt. Wir Kinder spielten wieder auf dem Hof. Der Alltag musste losgehen, um über das Schlimme hinwegzukommen, das hatten wir begriffen. In den Schuttbergen suchten wir nach den goldenen Mosaiksteinchen, mit denen die Kirchenkuppel verziert gewesen war. Der Bombeneinschlag hatte auch das Mosaik zerstört. Auf dem Schuttberg glitzerten die Steinchen in der Frühlingssonne. Goldene, blaue und grüne Steinchen – wunderschöne Steine, die mir heute noch gefallen würden. Wir Kinder erfanden damit ein Spiel. Wer die schönsten Steine oder die meisten von den goldenen hatte. Die roten und die grünen Steinchen waren selten, von den goldenen gab es am meisten. Wir tauschten sie untereinander. Mit diesen Spielen lenkten wir uns ab. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen. Kein Kind würde sich dafür interessieren. Aber damals war das eine Attraktion.
Meine Tante hatte mit meinem Cousin im öffentlichen Luftschutzraum überlebt und wohnte nun in unserer Wohnung. Nachdem ich einige Zeit bei den Schwestern gewohnt hatte, zog ich zu dieser Tante in unsere Wohnung zurück. Ich kannte sie gar nicht, sie war aus dem Osten nach Berlin geflüchtet. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen.
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