In dieser Nacht war in Dahlem die Hölle los. Stalin soll angeblich seinen Soldaten für drei Tage alles erlaubt haben als Belohnung für die Eroberung von Berlin. In Dahlem wohnten einige hohe Nazis, daher haben sie sich in diesem Bezirk ganz besonders ausgetobt. Am gefährlichsten waren die Betrunkenen. Den Schnaps dazu fanden sie in mehreren Kellern.
Am nächsten Morgen mussten wir unser Nachtquartier wieder verlassen. Draußen kamen uns viele Flüchtlinge aus Dahlem entgegen, die es in ihren Häusern nicht mehr ausgehalten hatten und gen Westen wandern wollten. Mutti und ich schlossen sich einem kleinen Trupp von ungefähr vierzig Leuten an, der von einem Professor mit russischen Sprachkenntnissen geführt wurde. Wie ungeheuer wichtig diese russischen Worte sind, erfahren wir jetzt täglich. Nach einiger Zeit gaben wir das Wandern auf und nahmen in einer leeren Villa in Schlachtensee in zwei Kellerzimmern Quartier.
Hier hausen wir nun, zwanzig Leute in einem Zimmer, schlafen auf harter Erde (Alte und Kranke auf Decken oder Matratzen, die wir im Haus fanden) und trauen uns nicht auf die Straße. Je mehr Menschen, umso sicherer fühlt man sich. Draußen bummert es noch, aber schon weiter entfernt. Eben kamen wieder drei Russen, um das Haus angeblich nach Schnaps, Pistolen und Uhren zu durchsuchen. Als sie gerade in unseren Raum wollten, hat der Professor mit ein paar russischen Worten abgelenkt. Wie kindlich sie sich freuen, wenn jemand ihre Sprache spricht!
28. April
Im Garten haben wir uns eine Kochstelle gebaut, auf der einmal am Tag eine Eintopf-Mahlzeit gekocht wird. Jeder muss dafür etwas abgeben, und mehrere Einweckgläser und Nährmittel fanden wir in der Villa gegenüber, wo sich vier Menschen das Leben genommen haben.
Vorhin rannte der elfjährige Jürgen schnell ins Haus, als er Russen kommen sah. Die Soldaten kamen sofort nach, da sie angeblich dachten, es wäre ein deutscher Soldat gewesen. Sie untersuchten alles, wurden wütend und drohten dem Professor mit Erschießen. Ich weiß nicht genau, wie er sich doch noch herausgeredet hat. Wir waren alle wie erstarrt.
29. April
Es ist herrliches Wetter, und ich habe mich etwas in den Garten gelegt und gesonnt. Wie schön das ist, wenn ich die Augen schließe und ein bisschen von einer Welt ohne Bomben, Angst und Hunger träume …
Als wir nach ungefähr zwei Wochen zurück in unsere Wohnung kamen, war mein geliebtes Pfäffchen, dem ich schnell alles Restfutter reingestreut hatte, nicht mehr da. Der Käfig auch nicht. Den hatten die Russen wohl mitgenommen. Die Wohnung war nicht wiederzuerkennen. Die Haustür durchschossen, die Polster der Möbel aufgeschlitzt, sämtliche Spiegel kaputt, die Schränke ausgeräumt. Aber wir waren dankbar, dass wir wieder in die Wohnung konnten. Ich fand unser Fotoalbum, wo auch Fotos von meinem Vater drin waren. Jedes Bild, auf dem er eine Uniform trug, war durchstochen. Das muss den Russen wirklich Spaß gemacht habe, nochmal einen Deutschen, wenn es auch nur ein Bild war, zu erstechen. (Sie lacht.) Wir räumten in der Wohnung auf. Die Möbel waren teilweise zerstört, die Toilette war voll … Aber wir waren dankbar, dass wir wieder in die Wohnung konnten.
20. Mai
Eigentlich ist das Leben doch wieder ganz schön. Es ist Friede – Friede nach fast sechs Jahren. Kein Sterben mehr an der Front, keine Bombenangriffe in der Heimat. Wie schön, nachts wieder ruhig schlafen und nicht mehr im Keller um das Leben zittern zu müssen. Ich bin jung und gesund und werde leben! Natürlich bleiben die Sorge um die Vermissten, der Hunger, die materielle Not und die Angst vor der Willkür der Besatzungsmacht.
Wir hatten Pferdefleisch zum Mittagessen. Schmeckte prima.
»Im Juni brachte uns eine Frau einen Zettel von meinem Vater. Er hatte ihn weggeworfen in der Hoffnung, dass ihn jemand finden würde. Die Frau hatte ihn auf dem Erdboden gefunden und brachte ihn uns netterweise. So wussten wir, was mit meinem Vater war. Auf dem zerknüllten Zettel schrieb er: »Ich bin in Wannsee in russische Gefangenschaft geraten. Es geht mir gesundheitlich noch gut. Ich hoffe, daß Ihr auch alles glücklich überstanden habt. Wolle Gott, daß wir uns alle einmal gesund wiedersehen … Laßt es Euch gutgehen in dieser schweren Zeit. Wann werden wir uns wiedersehen? Ich hoffe jedoch, daß die älteren Offiziere bald entlassen werden … herzliche Grüße und Küsse …«
Das waren die letzten Nachrichten. Mein Vater starb 1946 in russischer Gefangenschaft im Ural an Typhus …
Was mich in dieser Zeit geprägt hat? Man kann die schlimmsten Zeiten überstehen, wenn man optimistisch ist …
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