Es schaukelt noch immer. Die Auswirkungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg sind bis heute zu spüren. Der Krieg und seine Schrecken lebten auch nach dem Krieg in vielen Kindern weiter, auch wenn sie nach außen hin schwiegen. Die meisten konnten mit niemandem über ihre teils traumatischen Erlebnisse sprechen. Im Nachkriegsdeutschland ging es ums Überleben, Nachvorneschauen und Verdrängen des Nationalsozialismus und seiner Folgen. So konnten die Kinder das Erlebte nicht verarbeiten und haben es teilweise über Erziehung und Verhalten an ihre eigenen Kinder weitergegeben.
Deswegen will dieses Buch die ältere Generation bestärken und sie zum Erzählen ermutigen. Und meine Generation möchte ich dazu anregen, noch einmal genau nachzufragen und wirklich zuzuhören, sodass ein Dialog jenseits der bisher erzählten Anekdoten stattfinden kann. Noch ist die Geschichte direkt durch die Erinnerungen der Kriegskinder erfahrbar. Doch die Zeit dafür ist knapp. Sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen, anstatt das Schweigen weiterzuführen, ist eine große Chance.
Berlin, März 2021
Barbara Halstenberg
Bombenkrieg
»Ich höre Geräusche, das Knirschen der Trümmer über mir.«
Winfried L.
(Geboren 1938 in Berlin, Malermeister)
Ich erinnere mich an das erste Mal, wie ich als Kind mitbekam, was Krieg bedeutet. Ich hatte eine Spielkameradin. Meine kleine Freundin Ilse und ich waren unzertrennlich, wir waren den ganzen Tag zusammen. Sie wohnte mit ihrem Opa zwei Häuser weiter. Bei Luftalarm konnte es der Opa nicht ertragen, in den Keller zu gehen, weil er im Ersten Weltkrieg in einem Graben verschüttet gewesen war. Deswegen blieb er mit Ilse in der Wohnung. Wäre ich mit meiner Familie in der Wohnung geblieben, wäre uns kein Haar gekrümmt worden. Bei Ilse war das anders. Das Haus wurde getroffen. Der Opa und Ilse stürzten mit der ganzen Wohnung in den Keller. Dann war Ilse nicht mehr da. Einfach nicht mehr da.
In den letzten Kriegstagen wohnten wir quasi im Keller. Zu der Zeit war das nichts Außergewöhnliches. Es ging Millionen anderen auch so. Neben unserem Mietshaus lag ein öffentlicher Luftschutzkeller, der bei Alarm oft überfüllt war. Deswegen suchten wir Hausbewohner in der Krypta unter dem Altarraum der angrenzenden Kirche Schutz. Dort hatte jede Familie, auch wir, ihren eigenen, aber engen Platz sicher.
Es war Ende April 1945. Wegen der heftigen Straßenkämpfe hatten wir die Krypta seit Tagen nicht mehr verlassen. Tag und Nacht saßen wir dort unten mit etwa 70–80 Menschen in der Dunkelheit zusammen. Es war ein Halbdunkel. In meiner Erinnerung ist nur schwaches Kerzenlicht, das die Krypta etwas erhellte. Oft hörten wir in dichter Folge intensive Detonationsgeräusche. Wir spürten jede Bombe und jeden Granateinschlag. Schlugen sie in der Nähe ein, bebte der Boden unter den Füßen, es wackelte und vibrierte. Viele Erwachsene weinten dann leise oder stierten abwesend vor sich hin. Ich beobachtete sie. Bei heftigen Angriffen flehten einige von ihnen den Pfarrer und die Ordensschwestern an, die mit uns in der Krypta saßen: »Beten Sie doch mit uns! Singen Sie was mit uns!« Und dann beteten alle laut mit. Damals konnten die Menschen die Gebete noch auswendig. Heute ist das nicht mehr so, manche wissen gar nicht mehr, was ein Gebet ist … Zusammen sangen wir Marienlieder und auch christliche Lieder, die die Evangelischen mitsingen konnten. Während sie sangen, vergaßen die Menschen für ein paar Minuten, was um sie herum passierte. Sie fanden ihren Trost in den Gebeten und den Gesängen. In Erinnerung ist mir noch ein altes Ehepaar. Beide hatten furchtbar geschimpft, ihren ganzen Frust rausgelassen, wie der Herrgott so einen Krieg zulassen kann! Sie wollten von der Kirche überhaupt nichts wissen. Aber mit einem Mal beteten sie mit, richtig laut! Daran erinnere ich mich.
Wir waren ungefähr zehn Kinder in der Krypta. Manchmal spielten die Schwestern mit uns. Dann lenkten sie uns ab von der Angst, der Verzweiflung und der Passivität, die wir Kinder bei den Erwachsenen förmlich spüren konnten und die sich auf uns übertrug. Mutter bewachte und beruhigte uns unten in der Krypta, aber ich konnte ihr die Sorge und Anspannung ansehen. Es muss eine unendliche Enge dort unten gewesen sein. Ich bekomme jetzt noch Platzangst, wenn ich daran denke. Damals kam mir alles so groß vor. Die Luft war schlecht. Ab und zu wurden die beiden Türen hoch zum Kirchenraum geöffnet, um die klare Luft aus der Kirche reinzulassen. Erst dann konnten wir an dem durch die Kirchenfenster eindringenden Licht erkennen, ob es draußen Tag oder Nacht war. Aber dann sahen wir auch das Aufblitzen der Explosionen, und die Kampfgeräusche waren deutlich lauter zu hören. Das verstärkte unsere Angst. Rausgehen sollte keiner, niemand durfte die Luftschutzräume verlassen.
Einmal nutzte ich die Lüftungspause und schlich die Treppen hoch zum Altar. Für mich Siebenjährigen war das ein heiliger Ort. Ich sehe den riesigen Altar noch heute vor mir. Er war aus Marmor und glitzerte golden – so schön und wunderbar. Ich kniete mich vor den Altar. Von draußen hörte ich Kampflärm und Detonationen, doch in diesem Augenblick fühlte ich keinerlei Angst. Ich war fest davon überzeugt: Hier bist du sicher. Hier kann dir nichts passieren. Vor dem Altar fand ich einen Frieden. (Er spricht mit brüchiger Stimme.) Das ist wirklich so! Ein paar Wochen vorher hatte ich dort meine Erstkommunion empfangen. Das war ungewöhnlich früh, aber die Schwestern hatten sich wahrscheinlich gedacht: Wer weiß, ob er seine Erstkommunion sonst überhaupt noch erleben kann?
Ich glaubte fest daran, dass Gott in dem Tabernakel auf dem Hochaltar wohnen würde. Vor dem riesigen Altar kniend dachte ich: ›Mit sieben haste ja noch keine Sünde begangen, nichts angestellt, da kannste ja schon mal mit dem lieben Gott ein Gespräch führen, warum er das alles so macht.‹ Mit flüsternder Stimme bat ich ihn, den Krieg bitte, bitte ganz schnell zu beenden und uns alle, auch unseren Vater, gesund wieder nach Hause zu schicken. Danach dachte ich: ›So, nun haste es ihm aber mal gegeben, das muss er sich mal anhören, der liebe Gott, warum er sowas macht.‹
Mutter bemerkte mein Fehlen und holte mich wieder zurück in den Keller. Und dann, ein paar Tage später, am 26. April passierte es.
Durch einen unbeschreiblichen Lärm wache ich auf. Im Halbschlaf nehme ich wahr, dass mein Körper plötzlich eingeengt ist und ich mich nicht mehr bewegen kann. Ich kriege kaum Luft! Es schießt mir durch den Kopf: Jetzt ist dir das Gleiche passiert wie der Ilse und ihrem Opa! Zugleich bin ich mir sicher, dass mich meine Mutter vermissen und mich schnellstens rausholen wird. Jemand trampelt auf mir rum. Ich weiß gar nicht, was auf einmal los ist. Ich kriege kaum Luft! Und wieder kommt einer und läuft über mich hinweg. Ich höre Geräusche, das Knirschen von den Trümmern. Wieder nähert sich jemand. Und richtig, zack, wieder läuft einer über mich rüber …
Es muss nach Mitternacht gewesen sein, als eine Fliegerbombe durch das Kirchendach flog und im Bereich des Altars explodierte. Der Altar stürzte in sich zusammen und schlug die ganze Decke über der Krypta ein. Alle, die unten saßen, wurden begraben.
Ich weiß nicht, wer mich rausgezogen hat. Vielleicht die Schwestern, vielleicht Leute, die geholfen haben. Die Schwestern gruben mit ihren Händen in den Trümmern. Das habe ich in einem Jubiläumsband der Kirche gelesen, als ich sie vor zwei Jahren das erste Mal wieder besucht habe. Eine Schwester hat damals notiert, dass ich unter den Trümmern lag und die Leute auf mir rumtrampelten. Als ich das gelesen habe, war es mir wieder eingefallen. Es stimmte!
Ich muss in einer Nische gelegen haben, darum bin ich nicht erstickt. Vielleicht war da ein großer Stein. Das weiß ich alles nicht mehr. Schon als Kind habe ich meistens in Bauchlage geschlafen. Das hat mir damals möglicherweise das Leben gerettet. Ich bin wohl unverletzt aus den Trümmern gezogen worden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich etwas gebrochen hatte oder blutete. Vielleicht war ich der Einzige, der unverletzt war. Das kann ich nicht mehr sagen.
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