Kurze Zeit später geht bei der Staatsanwaltschaft Erfurt eine anonyme Anzeige ein. Darin wird Mohring beschuldigt, als Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Apolda 119 Scheinmitglieder geführt zu haben, darunter 19 bereits Verstorbene. Der „Spiegel“ berichtet Ende November: „Die Namen wurden den Ermittlern in einer Tabelle geliefert, jeweils mit Vermerk: ‚Austritt‘, ‚verzogen‘ oder ‚verstorben‘. Mehr Mitglieder bedeuten für Kreisverbände mehr Delegierte auf Landesparteitagen und höhere Finanzzuschüsse.“ 19Dass Mohring dementiert, nützt ihm wenig: Er steht im Zentrum einer dubios wirkenden Affäre um tote Parteiseelen. Die Ermittlungen beginnen.
Und nun, ganz plötzlich, erklärt Lieberknecht öffentlich ihren Verzicht. Am 2. Dezember – am Tag, an dem Linke, SPD und Grüne offiziell den Vorschlag für die Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten am 5. Dezember einreichen – sagt sie auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz: „Ich gehe am Freitag nicht in die Arena des Löwen.“ 20
Das Kalkül dahinter: Wenn schon jemand gefressen werden soll, dann doch lieber Mohring. Entweder verlöre er oder die AfD kontaminierte ihn – oder beides. Schließlich hat Höcke verkündet, dass der CDU-Fraktionschef „nach menschlichem Ermessen mit allen elf Stimmen der AfD-Fraktion rechnen“ könnte. Mohring, sagt er, sei „ein profilierter Konservativer“, ein „junger Stürmer und voll im Saft“ 21.
Der CDU-Fraktionsvorsitzende ahnt die Falle. Er setzt vorerst weiter darauf, dass Ramelow keine Mehrheit erhält, parallel dazu sucht er nun einen Notkandidaten, der statt ihm in einem möglichen dritten Wahlgang in die Arena geht. Zwei Tage vor der Wahl beschließt das Präsidium der Thüringer CDU, im ersten Wahlgang keinen eigenen Kandidaten aufzustellen. Ob die CDU in einem möglicherweise zweiten oder dritten Wahlgang mit einem eigenen Kandidaten antrete, lässt Voigt als Generalsekretär offen. Das werde gegebenenfalls die Fraktion entscheiden, sagt er.
Einen Tag vor der Ministerpräsidentenwahl erläutert Mohring seine Taktik im Deutschlandfunk: „Unser Ziel ist in Thüringen, dass eine bürgerliche Regierung gebildet wird, und deswegen gilt ja nach wie vor unser Angebot an die SPD und auch die Grünen, nicht den Tabubruch zu begehen, mit der Linkspartei zu koalieren, sondern einen anderen Weg für Thüringen einzuschlagen, der auch ein zukunftsfester ist.“
Rot-Rot-Grün solle an sich selbst scheitern, sagt Mohring. „Deswegen haben wir ja auch, ich wiederhole das gern noch mal, bisher keinen Kandidaten für den ersten Wahlgang nominiert, tun das auch nicht, weil wir davon ausgehen, dass sich das dann an sich selbst scheitern lässt, und dann kann man auch die Gemengelage neu ordnen. Wenn das im zweiten Wahlgang nochmal passiert, ist auch klar: Dann findet Bodo Ramelow in dieser Koalition keine Mehrheit.“ 22
Doch was ist mit dem dritten Wahlgang? Was ist mit dem Kandidaten, den Lieberknecht angekündigt hat, um Mohring zum Antritt zu nötigen? Die Lösung hat Bernhard Vogel vorbereitet, gemeinsam mit seinem vormaligen Vize-Ministerpräsidenten Gerd Schuchardt von der SPD, der seit jeher jede Zusammenarbeit mit PDS oder Linke ablehnte und nun die Ideale von 1989 verraten sieht. Sein Name steht unter einem Appell, dem sich auch bekannte Schriftsteller wie Reiner Kunze angeschlossen haben. Darin heißt es: „Jetzt soll ganz legal stattfinden, was die Kommunisten die Konterrevolution nannten: Die Befreiung durch die Revolution von 1989 soll in Thüringen revidiert werden. Und die Revolutionäre von damals sollen ihnen dabei behilflich sein! Verkehrte Welt!“ 23
Schuchardt betrachtet sich also ganz offenbar als Kämpfer gegen eine Konterrevolution. Darum sind er und Vogel zum ehemaligen Rektor der Universität Jena gefahren, und haben ihn in langen Gesprächen zu einer Kandidatur überredet. Klaus Dicke, ein aus Rheinland-Pfalz stammender Politikprofessor, soll als überparteilicher Bewerber antreten und im Fall eines Erfolgs eine bürgerliche Expertenregierung bilden.
Vieles von dem, was in diesen Wochen geschieht, wird sich fünf Jahre später wiederholen. Manches muss nur reifen. Noch hat die AfD ihre endgültige Radikalisierung vor sich. Noch existieren jenseits von Linke und AfD knappe Mehrheiten, die bloß nicht genutzt werden. Noch ist Thomas Kemmerich bloß ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der FDP.
Doch auf der kleinen politischen Bühne, die Thüringen heißt, haben jetzt sämtliche Menschen, die fünf Jahre später Haupt- oder Nebenrollen erhalten werden, ihre Positionen eingenommen: Mohring, Ramelow, Höcke, Hennig-Wellsow, Voigt, Vogel, Lieberknecht, Gauck. Und die CDU präsentiert sich bereits genau so, wie man sie 2019 und 2020 erleben wird: gespalten, taktierend, überfordert. Nicht wenige ihrer Führungsmitglieder erscheinen bereit, mit allen Mitteln die Wahl des ersten linken Ministerpräsidenten zu verhindern – falls es sein muss, mit Hilfe der AfD.
In diesen Tagen fallen fast unbemerkt zwei Sätze, die heute prophetisch klingen. CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagt sie vor der geplanten Wahl Ramelows am 5. Dezember 2014: „Ein Ministerpräsident der CDU darf nie von der AfD abhängig sein. Ein CDU-Kandidat, der dieses Amt nur mit den Stimmen der AfD erreichen kann, sollte diese Wahl nicht annehmen.“ 24
„Versöhnen statt Spalten“
Am 4. Dezember 2014 unterzeichnen Linke, SPD und Grüne ihren Koalitionsvertrag. Er sieht wenig Umstürzendes vor: ein kostenloses Kindergartenjahr, mehr Geld für den dritten Arbeitsmarkt und die Gebietsreform, die unter anderem am Widerstand Mohrings in der vergangenen Wahlperiode schon in ihren Anfängen gescheitert war. Dass der Verfassungsschutz fast alle V-Leute abschalten soll, ist ein Zugeständnis an die Linken, derweil insbesondere die Grünen, die auch den Migrationsminister stellen, einen Winterabschiebestopp für Geflüchtete erstritten haben. Die SPD hat durchgesetzt, dass sie neben dem Innen- und dem Wirtschaftsministerium auch das Finanzressort erhält und dass keine neuen Schulden aufgenommen werden sollen.
Eine Konterrevolution sieht anders aus. Aber es geht auch nicht darum, was ist. Es geht darum, was war – und was sein könnte. So wie das Trauma der NS-Diktatur die Auseinandersetzung um die AfD bestimmt, wirken die Traumata von Teilung und DDR beim Streit um die Linke nach.
Und so versammelt sich der Protest am Vorabend der Ministerpräsidentenwahl ein letztes Mal vor dem Landtag. Etwa 2000 Menschen sind gekommen, diesmal hat die CDU offiziell mit zu der Demonstration aufgerufen. Wieder brennen Kerzen, auf Plakaten steht „Rettet Thüringen vor Blutrot, Rot und Grün“, einige Protestler rufen „Stasi raus!“ Wie einen Monat zuvor auf dem Domplatz handelt es sich um eine Mischung aus einstigen Bürgerrechtlern, CDU-Leuten, AfD-Anhängern, sogenannten normalen Bürgern – und einigen Dutzend polizeibekannter Rechtsextremisten.
Der nächste Tag. Das Parlamentsgebäude im Süden von Erfurt ist umstellt von Übertragungswagen. Alle wichtigen nationalen Medien sind vertreten, dazu Al Jazeera, der schwedische Rundfunk und das türkische Fernsehen. 315 Journalisten haben sich akkreditiert 25.
Der medial-politische Komplex hat das Haus besetzt, ballt sich auf der Tribüne, im Plenarsaal, in der Lobby, der Kantine, den Gängen, den Innenhöfen. Alle sind gekommen, Ex-Minister, geschäftsführende Kabinettsmitglieder, frühere Abgeordnete. Der vormalige Bürgerrechtler Matthias Büchner, der am Abend noch demonstriert hat, hält seinen langen grauen Bart in die Kameras. Der linke Bundestagsfraktionsvorsitzende Gregor Gysi, der eigens aus Berlin angereist ist, eilt zwischen seinen Personenschützern über den Flur. Mohring gibt Interviews im Akkord.
Ramelows dritte Frau, die aus dem oberitalienischen Parma stammt und den Namen Germana Alberti vom Hofe trägt, sitzt gemeinsam mit seiner ersten Frau und dem ältesten Sohn auf der Tribüne, derweil Dutzende Teleobjektive auf sie gerichtet sind. Schließlich betritt der Kandidat der Linken den Saal, auch alle anderen 90 Abgeordneten nehmen ihre Plätze ein. Vorher geht Christine Lieberknecht noch demonstrativ auf Ramelow zu, der ihr ebenso demonstrativ entgegenläuft. Sie gibt ihm ihre rechte Hand, mit der linken umfasst sie seinen Arm. Beide lächeln.
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