An diesem Umstand ändert auch der Wiedereinzug der FDP nichts. Die Partei, die wie die Grünen anderthalb Jahrzehnte in der außerparlamentarischen Opposition verbringen musste, hat dank eines fulminanten Bundestrends 7,6 Prozent erreicht. Einer der sieben liberalen Abgeordneten ist Unternehmer, er besitzt eine Friseurkette, führt in Erfurt den Kreisverband der Partei und amtiert als Präsident aller Karnevalclubs der Landeshauptstadt. Er heißt Thomas Kemmerich.
Doch für die erste rot-rot-grüne Koalition in der deutschen Geschichte gibt es eine Hürde: Es ist die Frage, wer Ministerpräsident wird. Die Sozialdemokraten hatten sich in einem Mitgliederentscheid darauf festgelegt, nicht als Juniorpartner mit der Linken zu koalieren. Jetzt wollen sie als deutlich kleinerer Partner den Ministerpräsidenten stellen – oder, falls die Linke nicht zustimmt, lieber mit der Union regieren.
Die CDU hat also die Möglichkeit, sich an der Macht zu halten – aber offenkundig nicht unter Althaus. Denn mit ihm will SPD-Landeschef Christoph Matschie nicht einmal reden. Er verlangt nach einem neuen Ansprechpartner. Auch deshalb tritt der Ministerpräsident, der sich zudem erstmals offener Kritik in der eigenen Partei ausgesetzt sieht, überstürzt von allen Ämtern zurück. Er verschwindet ins heimische Eichsfeld und unterlässt es dabei, seine Nachfolge im Sinne Mohrings zu regeln. Dank des Chaos, das er damit produziert, kann sich eine Frau durchsetzen, die viele immer wieder unterschätzt hatten.
Die einstige Pastorin Christine Lieberknecht war seit 1990 alles Mögliche gewesen, Kultusministerin, Staatskanzleiministerin, Landtagspräsidentin, Fraktionschefin, Sozialministerin. Doch in die Nähe des Regierungsvorsitzes gelangte sie nie. Hier standen stets genügend Männer vor ihr.
Hinzu kam ihr Image als Intrigantin. Noch in den letzten Monaten der DDR, im Spätsommer 1990, hatte Lieberknecht dafür gesorgt, dass CDU-Landeschef Willibald Böck, der auf Platz 1 der Landesliste stand, nicht als Spitzenkandidat in den Landtagswahlkampf ziehen durfte. Statt ihm inthronisierte sie den Zweitplatzierten Josef Duchač als Ministerpräsidenten – nur um ein gutes Jahr später einen erfolgreichen Putsch gegen ihn anzuführen. Seitdem galt sie als Verräterin.
Doch nun, im Herbst 2009, nach dem Spontanrücktritt von Althaus, ergibt sich ihre Chance. Man kann Lieberknechts späteren Beteuerungen glauben, dass sie das höchste Regierungsamt nie wirklich anstrebte. Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass sie es sich seit Langem zutraute und darauf hinarbeitete. Unumstritten ist jedenfalls: Als Finanzministerin Diezel, die als stellvertretende Partei- und Regierungschefin wieder Althaus vertritt, ihr nach einem Geheimtreffen die Kandidatur für das Ministerpräsidentenamt anbietet, greift sie entschlossen zu.
Die beiden Frauen lassen zu diesem Zeitpunkt noch offen, wer den Vorsitz der CDU übernehmen soll. Lieberknecht drängt Diezel, die aber das ruhigere Amt der Landtagspräsidentin vorzieht. Damit scheint für Mohring zumindest der Weg an die Spitze der Landespartei frei. Doch jetzt stellen sich ihm Mario Voigt und Christian Carius entgegen. Die beiden Landtagsabgeordneten sind seit ihrem Studium in Jena eng befreundet – und Mohring seit Jahren in gegenseitiger Abneigung verbunden.
Mario Voigt, 1977 in Jena geboren, hatte dort auch Politikwissenschaft studiert. Nebenbei führte er für ein Jahr den RCDS und durfte in Bonn den Granden der CDU im Bundesvorstand zuschauen. Nach einem mehrmonatigen US-Praktikum promovierte er über den zweiten Präsidentschaftswahlkampf von Georg W. Bush und arbeitete als Berater für die Bundes-CDU.
Im Jahr 2005 wurde Voigt zum Chef der Jungen Union in Thüringen gewählt. In diesem Moment begann auch die Konkurrenz zu Mohring, der bereits Generalsekretär der Landespartei war und eine seiner Vertrauten an die JU-Landesspitze schieben wollte. Doch Voigt siegte nicht nur gegen sie, er installierte auch seinen Freund Christian Carius als Stellvertreter.
Damit besitzen die beiden eine eigene, kleine Machtbasis. Nun, im Jahr 2009, ist Voigt in den Landtag eingezogen – und organisiert mit Carius in der Fraktion, die gar nicht für Parteifragen zuständig ist, eine Mehrheit für Lieberknecht als CDU-Landesvorsitzende. Mohring muss ohnmächtig dabei zusehen, wie ihn die beiden auf seinem ureigenen Feld ausmanövrieren. Selbst Dieter Althaus, der, wie er verspätet feststellt, trotz seines Rücktritts laut Verfassung noch geschäftsführend im Regierungsamt ist und in die Staatskanzlei zurückeilt, vermag seinem Schützling nicht mehr zu helfen.
Spätestens jetzt sind aus den Konkurrenten Voigt und Mohring erbitterte Feinde geworden. Über die Jahre wird sich der Machtkampf zu einer persönlichen Fehde entwickeln, welche die Thüringer CDU für mehr als eine Dekade prägt – bis hin zur Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten. Die beiden Männer misstrauen sich zutiefst, ja, sie verachten sich. Voigt hält Mohring für einen politischen Spekulanten, einen talentierten, aber teamunfähigen Solisten, der dabei ist, die gesamte Landespartei in die Geiselhaft seiner Ambitionen zu nehmen. Für Mohring wiederum ist Voigt nur ein akademischer Westentaschen-Stratege, der glaubt, in Thüringen US-Wahlkampf spielen zu können.
In die gegenseitige Abneigung spielt hinein, dass Voigt promoviert ist, während der Fraktionschef sein Jura-Studium abgebrochen hatte. Ab 2007 belegt Mohring auf Grundlage seiner in Jena erworbenen Scheine insgeheim Kurse an privaten Hochschulen in Innsbruck und Frankfurt am Main – und kann pünktlich im Wahljahr 2009 dem erstaunten Publikum zwei Abschlüsse vorweisen, einen Master of Law und einen Master of International Business & Tax Law. Zu diesem Zeitpunkt bekommen gleich mehrere Journalisten Hinweise, dass irgendetwas mit den Examina nicht stimme. Doch die Recherchen laufen ins Leere, Mohring hat sein Studium ordnungsgemäß abgeschlossen. Er wäre jetzt auch formal bereit für größere Aufgaben.
Aber die Chance ist vergeben. Mario Voigt hat sich, zumindest in dieser Situation, als schneller, energischer und taktisch versierter erwiesen. Christine Lieberknecht zeigt derweil, wie flexibel sie Machtpolitik beherrscht. Sie umschmeichelt die Sozialdemokraten, macht enorme inhaltliche Zugeständnisse, bei Gemeinschaftsschulen oder Gebietsreform. Und sie garantiert der halb so großen Partei die Hälfte der Fachministerien.
Ramelow hält dagegen. In einem spektakulären Schritt verzichtet er gegenüber SPD und Grünen auf den Anspruch der größeren Partei auf das Ministerpräsidentenamt und wirbt für einen parteilosen oder sozialdemokratischen Regierungschef, der am besten nicht aus Thüringen kommen soll. Die Namen des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse oder des scheidenden Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (beide SPD) werden genannt.
Doch SPD-Landeschef Matschie, der damit in einer rot-rot-grünen Landesregierung zur Nummer 3 degradiert würde, macht da nicht mit. Er nutzt das Zögern innerhalb der Linken, die DDR pauschal als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, um entgegen dem deutlich erkennbaren Basiswillen eine Koalitionsaussage zugunsten der CDU durchzusetzen. Hinzu kommt, dass sich der Theologe Matschie mit der beurlaubten Pastorin Lieberknecht, die er längst duzt, menschlich einfach besser als mit Ramelow versteht.
Die CDU-Landeschefin hat also ihrer Partei noch einmal die Macht gesichert. Doch trotz dieses nicht selbstverständlichen Erfolgs präsentiert sich die Fraktion tief gespalten. Die alte Althaus-Gang fühlt sich kollektiv düpiert. Als sich Lieberknecht im Landtag der Wahl zur Ministerpräsidentin stellt, fällt sie in den ersten beiden Wahlgängen durch, obwohl Schwarz-Rot über eine solide Vier-Stimmen-Mehrheit verfügt.
Damit kommt es erstmals bei einer Thüringer Ministerpräsidentenwahl zum Drama des dritten Wahlgangs. Hier reicht nach Artikel 70 der Landesverfassung die relative Mehrheit der „meisten Stimmen“. Die Formulierung hatte in den Wochen vor der Wahl zu langwierigen Debatten geführt. Zählen nur die Ja-Stimmen? Stünde, wenn Lieberknecht als Einzelkandidatin mehr Nein- als Ja-Stimmen erhielte, die Legitimität ihrer Wahl infrage? Muss dann das Verfassungsgericht entscheiden? Die Rechtsgelehrten wirken ebenso uneins wie das zunehmend verwirrte Publikum. Die Formulierung der Landesverfassung war in den Zeiten klarer Mehrheiten niemandem aufgefallen.
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