Punkt 10 Uhr eröffnet Landtagspräsident Carius die Sitzung. Tagesordnungspunkt 1: Wahl des Ministerpräsidenten. Die Abgeordneten werden namentlich aufgerufen. Einer nach dem anderen geht zu den Kabinen am Rande des Saals und wirft seinen Stimmzettel ein.
Danach wird ausgezählt. Schließlich referiert Carius als Sitzungsleiter das Ergebnis. 91 Stimmen, davon eine ungültig, eine Enthaltung, 44 Nein und 45 Ja.
Es reicht nicht.
Aus der AfD-Fraktion ist Klatschen zu hören, sonst bleibt es sehr ruhig. Mohring versucht, möglichst gelassen zu blicken. Bisher geht sein taktischer Plan auf.
Der 2. Wahlgang. Namentliche Aufrufe, Kabinengänge, Auszählung. Carius liest vor: 91 Stimmen, davon eine ungültig, 44 Nein und 46 Ja. Das ist sie, die absolute Mehrheit. Ramelow ist gewählt. Er ist der erste linke Ministerpräsident der Republik. Der dritte Wahlgang fällt aus. All die Debatten über die Verfassung, über einen unabhängigen Kandidaten und über die AfD: Sie waren umsonst.
Zumindest für dieses Mal.
Nach Gratulationen und Vereidigung tritt Ramelow ans Rednerpult. Er verweist auf das geteilte Land, auf die großen Emotionen, appelliert an Fairness, an Anstand. Dann zitiert er den Sozialdemokraten und Altbundespräsidenten Johannes Rau: „Versöhnen statt spalten“. Dies, sagt der Ministerpräsident, werde sein Handlungsprinzip sein. Es folgt viel parteiübergreifender Dank, an die Chefs der früheren Regierungsfraktionen, aber vor allem an Christine Lieberknecht. Sie habe, sagt er, mit ihrer Regierung „Akzente gesetzt“.
Das Versöhnungspathos steigert sich aber noch. Ein väterlicher Freund, sagt Ramelow, sei an diesem Tag in den Landtag gekommen, der damals von der Staatssicherheit ins Gefängnis gebracht wurde, nach Bautzen. „Er hat mich mitgenommen zu dem Ort, wo er im Blut gelegen hat.“ Dann kommt die Botschaft, die der Ministerpräsident setzen will: „Lieber Andreas Möller: Dir und allen deinen Kameraden kann ich nur die Bitte um Entschuldigung überbringen.“
Seine Wahl, sagt Ramelow, werde jetzt von einigen als historischer Moment bezeichnet. Doch dies stimme nicht. Der wahre historische Moment, den habe es schon vor 25 Jahren gegeben, am 4. Dezember in Erfurt, als die erste Bezirksverwaltung der Stasi friedlich besetzt wurde.
Der Gang, der vom Plenarsaal zum Fraktionsgebäude führt, ist verstopft von Journalisten, Fotografen, Kameraleuten, Beamten und sonstigen Interessierten. In einem Nebenraum, abgeschirmt vom Trubel, stehen die Menschen zusammen, die gerade die politische Macht in Thüringen übernehmen. Sie sind, für eine kurze Weile, unter sich. Urkunden werden verteilt und Blumensträuße. Es gibt Sekt.
Dann treten sie, es sind je fünf Frauen und Männer, hinaus in das gleißende Licht der Scheinwerfer vor eine blaue Wand, an der, ganz oben rechts, „Freistaat Thüringen“ steht. Das hier ist sie also: die erste rot-rot-grüne Landesregierung, die es je in der Bundesrepublik gab.
Ein Mann, er steht in der Mitte, tritt nach vorne ans Mikrofon und sagt: „Mein Name ist Bodo Ramelow. Sie werden mich noch öfter sehen.“
Ein Widerspruch namens Ramelow
Die Regierung, die nun ihre Arbeit beginnt, ist ohne diesen Ministerpräsidenten nicht denkbar. Ohne ihn hätte seine Landespartei nie diesen Wahlsieg erreicht. Ohne ihn hätten die Verhandlungen kein erfolgreiches Ergebnis gehabt. Ja, ohne ihn gäbe es wohl nicht einmal die Linkspartei in dieser Form.
Gleichzeitig ist der Mann ein einziger Widerspruch. Ein Westdeutscher, der in Ostdeutschland eine Heimat fand. Ein gläubiger Protestant in einer atheistischen Partei. Ein Gewerkschafter, der wie ein Unternehmer denkt.
Geboren wird Bodo Ramelow am 16. Februar 1956 in Niedersachsen, in Osterholz-Scharmbeck. Er hat drei Geschwister, als er elf Jahre alt ist, stirbt der Vater an Gelbfieber, er hatte die Krankheit aus dem Krieg mitgebracht. Für Ramelow ist dies das zentrale Trauma seiner Kindheit. Der Vater sei in seinen Armen gestorben, sagt er später. „Die Dimension war für mich unbegreiflich.“ 26
Seine Mutter ist eine geborene Fresenius, ihr Urahn Johann Philipp Fresenius taufte Johann Wolfgang Goethe. Doch der große Name zählt nichts, sie muss als Hauswirtschafterin die Familie allein ernähren. Ihr Sohn Bodo bereitet ihr Sorgen. Seine drei Geschwister lernen Instrumente, er kann es nicht. Das Schreiben fällt ihm schwer, in der Schule bekommt er auf Diktate Fünfen. Dass er Legastheniker ist, ahnt niemand. Die Mutter ist überfordert, sie schlägt ihn, auch mit der Peitsche 27. Ramelow wird rückblickend von „Gewaltorgien“ sprechen.
Nach dem Abschluss der Hauptschule lernt er bei der Kaufhauskette Karstadt in Gießen Einzelhandelskaufmann – wo übrigens zur selben Zeit der Jura-Student Volker Bouffier aushilft. Die beiden können nicht ansatzweise ahnen, dass sie sich später als Ministerpräsidenten wiederbegegnen werden.
Ramelow ist 19, als endlich die Legasthenie diagnostiziert wird. Er holt die Mittlere Reife nach und erwirbt die kaufmännische Fachhochschulreife. Er will Weinbau studieren, doch während des vorgeschriebenen Praktikums in der Pfalz plagen ihn nach der Weinlese Rückenprobleme. Der Arzt verschreibt ihm ein Korsett und redet ihm die Önologie aus: Mit dieser Wirbelsäule könne er nicht in der Landwirtschaft arbeiten. Und so beginnt Ramelow, in Gießen Betriebswirtschaft zu studieren, die Motivation ist gering. Als er das Angebot einer Kaufhausfirma als Filialleiter in Marburg erhält, verlässt er die Hochschule nach nur einem Semester.
Der Mensch und Politiker Ramelow lässt sich ohne all diese Erfahrungen nicht erklären, ohne den Tod des Vaters, ohne die schulischen Versagensängste, ohne den kaputten Rücken. Der unbändige Wille, es sich und allen anderen zu beweisen, gepaart mit einer großen Verletzlichkeit: Das alles wird in seiner Jugend geprägt.
Hinzu kommt der Einfluss von Marburg, einer Universitätsstadt, die in den 1970er- und 1980er Jahren ein besonders linkes und radikales Studentenmilieu beherbergt. Die von der SED finanzierte Deutsche Kommunistische Partei, die in der restlichen Bundesrepublik eine Splitterpartei ist, gilt als wichtige Stimme in der Stadt und in der Gewerkschaftsszene.
Eberhardt Dähne, ein örtlicher Funktionär der Gewerkschaft für Handel, Banken und Versicherungen (HBV), sitzt für die DKP im Stadtrat. 28Als Ramelow in die Gewerkschaft eintritt, wird der Kommunist zu seinem Mentor, gemeinsam engagieren sie sich gegen den Radikalenerlass, der DKP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst fernhalten soll. In dieser Zeit beginnt sich auch der Verfassungsschutz für den aktivistischen Filialleiter zu interessieren.
Es dauert nicht lange, bis Ramelow hauptamtlich in die Gewerkschaft wechselt – und den wohl wichtigsten Schritt in seinem Leben vollzieht. Im Herbst 1990 zieht er nach Erfurt, um als Landesvorsitzender die Thüringer HBV aufzubauen. Der Mann aus Marburg macht den wilden Osten zu seinem Revier: Als Macher, der die alte Konsum-Genossenschaft der DDR mit ihren hunderten Lebensmittelgeschäften abwickelt und als Kämpfer, der gegen die Schließung der nordthüringischen Kaligruben streitet.
Ramelows Privatleben hat dramatische Episoden. Er heiratet dreimal, seine beiden Söhne aus erster Ehe, Victor und Philip, erkranken an Krebs, so wie seine Mutter und sein Schwiegervater. Auch aus diesen Erfahrungen heraus tritt Ramelow wieder in die evangelische Kirche ein, die er als junger Mann im Protest verließ.
Politisch nähert Ramelow sich der PDS an, tastend, in vorsichtigen Schritten. 1994 spricht er auf der zentralen Maifeier der Partei in Erfurt. 1997 gehört er zu den Hauptinitiatoren der Erfurter Erklärung, die für eine Politikwende und ein rot-rot-grünes Bündnis wirbt, und die auch Schriftsteller wie Günter Grass oder Walter Jens unterzeichnen. Später wird Ramelow die Erklärung zum Vorläuferdokument von Rot-Rot-Grün erklären, einem Modell von „drei Parteien auf gleicher Augenhöhe“, mit „mehr Demokratie und weniger Parteibuch“. 29
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