Warum wird er nicht Sozialdemokrat? Immerhin ist er Gewerkschafter und vertritt linke SPD-Positionen. Ein Grund ist schlichter Trotz. „Bei der Einstellung in die Gewerkschaft lag immer der Aufnahmeschein der SPD dabei“, sagt Ramelow. „Das stieß mich ab.“ Was ihn noch störte: Der Radikalenerlass und der Korruptionsskandal um den DGB-Wohnungsbaukonzern „Neue Heimat“ in den 1980er Jahren, in den viele sozialdemokratische Gewerkschafter verwickelt waren. Zumal, als Ramelow den Einstieg in die Politik erwägt, haben sich die linken Hoffnungen auf die rot-grüne Politikwende unter SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder zerschlagen. In Thüringen regieren die Sozialdemokraten sowieso unter Führung der CDU.
Dass sich Ramelow schließlich vor der Landtagswahl 1999 für die PDS entscheidet, hat aber auch machtpolitische Gründe. Die SPD würde ihm, dem Quereinsteiger aus dem Westen, kaum Platz 2 auf der Landesliste freiräumen – so, wie es die PDS gerne tut. Das Wahlergebnis wird für die Partei zum Triumph. Sie wächst auf 21,3 Prozent und überholt erstmals die SPD.
Ramelow wird sofort einer der Stellvertreter von Fraktionschefin Gabi Zimmer. Als diese ein Jahr später zur Bundesvorsitzenden aufsteigt, übernimmt er ihren Posten im Landtag. Er ist fortan die unbestrittene Nummer 1 der PDS in Thüringen, die jeweiligen Parteivorsitzenden arbeiten ihm zumeist ohne Murren zu. Fünf Jahre später, 2004, steigert die PDS ihr Ergebnis nochmals um 4,8 Punkte auf 26,1 Prozent. Dies ist das höchste Ergebnis, dass die Partei bis dahin jemals in Deutschland erreichte. Nur weil gleichzeitig die SPD nochmals verliert und die Grünen knapp an der 5-Prozent-Hürde scheitern, reicht es nicht für eine rot-rot-grüne Mehrheit gegen die CDU.
Spätestens jetzt ist Ramelow ein Star in der PDS. Als Kanzler Schröder im Jahr 2005 die Neuwahl des Bundestags einleitet, gewinnt die ein Jahr zuvor gegründete WASG, die bisher nur ein obskures Sammelbecken enttäuschter Ex-Sozialdemokraten war, mit dem Übertritt des früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine an Dynamik. Ramelow stellt sich nach kurzem Zögern mit an die Spitze jener, die aus der SPD-Abspaltung und der PDS eine neue Partei formen wollen. Als Fusionsbeauftragter organisiert er erst eine gemeinsame Wahlliste und später die Gründung der Linkspartei. Und er kandidiert erfolgreich für den Bundestag, wo er die Funktion eines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden übernimmt.
Die Linke will endlich die gesamtdeutsche Partei sein, welche die PDS nie sein konnte, weil an ihr das Stigma der SED-Vergangenheit und der Ruf einer reinen Ostvertretung haftete. Der Imagewandel gelingt, dank Hartz IV, Gysi und Lafontaine und ihres Vollstreckers aus Erfurt.
Doch Ramelow kommt nie wirklich in Berlin an. Weil er den Zusammenschluss mit harten Ansagen und gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen vorantreibt, macht er sich Feinde. Und er reibt sich an den Parteivorsitzenden Lafontaine und Gysi. Bald wächst der Druck aus Berlin und Erfurt, sich wieder daheim als Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2009 zur Verfügung zu stellen. Der Wahlkampf wird auf Ramelow zugeschnitten, der seinen kleinen Ohrring ablegt und fast nur noch im Anzug auftritt. Obwohl die Linke nochmals hinzugewinnt und die Regierungsübernahme einer rot-rot-grünen Koalition greifbar nahe liegt, und obwohl Ramelow auf das Ministerpräsidentenamt verzichtet, entscheidet sich die SPD unter Christoph Matschie für die Koalition mit der CDU.
Der Linke versucht sich als pragmatischer Oppositionsführer, der trotz allem die Verbindung zur regierenden SPD pflegt und gleichzeitig seine Partei strategisch wie personell neu aufstellt. Er entschlackt das Programm und organisiert den Generationswechsel. Im November 2013 übernimmt die 34-jährige Susanne Hennig-Wellsow den Landesvorsitz, ihr Stellvertreter wird der 40-jährige Steffen Dittes. Schon aus Altersgründen gehörten beide nie der SED an. Auch wenn sie eine Nähe zur autonomen Szene besitzen: Sie stehen für den Regierungsanspruch der Partei, die in Ostdeutschland ohnehin deutlich pragmatischer auftritt als im Westen.
Doch die Enttäuschung von 2009 hängt Ramelow lange nach, zuweilen scheint er monatelang aus dem politischen Geschehen abzutauchen. Die Popularität der Ministerpräsidentin in ihren ersten Amtsjahren, die Erholung der CDU, der Aufstieg der AfD, die auch Proteststimmen von der Linken abzieht: Das alles lässt in den Umfragen die rot-rot-grüne Mehrheit erodieren, eine Wechselstimmung ist nicht mehr zu erkennen.
Das ändert sich im Vorwahljahr. Ab dem Sommer 2013 führt das personelle Missmanagement Lieberknechts dazu, dass die CDU in den Umfragen geradezu abstürzt. Ramelow wirkt fokussiert, er führt einen erfolgreichen, komplett auf sich zugeschnittenen Wahlkampf – an dessen Ende es ein Foto-Finish gibt: Es reicht nach der Wahl im September 2014 im Landtag mit genau einer Stimme Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Hätte die CDU nur ein paar tausend Wählerstimmen mehr erhalten: Ramelow wäre zur historischen Fußnote geschrumpft.
Doch nun, mit seiner Wahl am 5. Dezember 2014, hat sich der Linke Bodo Ramelow einen Platz in den Geschichtsbüchern erobert. Er ist der erste linke Ministerpräsident der Bundesrepublik, an der Spitze der ersten rot-rot-grünen Koalition.
Sein Kabinett besteht aus Mitgliedern dreier Parteien und jeweils zur Hälfte aus Männern und Frauen. Ein Drittel der Ministerinnen und Minister stammt ursprünglich aus Westdeutschland, ein Drittel wurde in Sachsen und Berlin angeworben, ein Drittel ist konfessionslos. Finanzministerin Heike Taubert und Innenminister Holger Poppenhäger gehörten schon Lieberknechts Kabinett an. Neu ist Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee, der frühere Leipziger Oberbürgermeister und Bundesverkehrsminister der SPD, der es mit knapp 60 noch einmal in der Provinz versuchen will – und der fünf Jahre zuvor schon mal als möglicher Thüringer Ministerpräsident gehandelt worden war.
Bei den Grünen hat die bisherige Fraktionschefin Anja Siegesmund das gestutzte Umweltressort übernommen, der Richter Dieter Lauinger führt das um Migration und Verbraucherschutz erweiterte Justizministerium. Für die Linke besetzt die frühere sächsische Landtagsabgeordnete Heike Werner das Sozialressort. Landtagsvizepräsidentin Birgit Klaubert wird Kultusministerin, die Nordhäuser Landrätin Birgit Keller übernimmt das Bau- und Verkehrsministerium, das nun auch für Landwirtschaft und Forst zuständig ist.
Im strategischen Zentrum der Regierung steht Staatskanzleichef Benjamin Immanuel Hoff, der zusätzlich als Minister für Bundesangelegenheiten, Europa und Kultur amtiert. Er gilt als linkes Wunderkind: 1990, da ist er noch Schüler, tritt er in Berlin in den sozialistischen Jugendverband ein und gelangt so in die PDS. Mit 19 wird er erstmals ins Abgeordnetenhaus der Hauptstadt gewählt. Nebenher studiert er Sozialwissenschaften und promoviert 30.
Im Jahr 2006, fast parallel zur Gründung der Partei Die Linke, wird Hoff im zweiten rot-roten Berliner Senat Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz. 2009 beruft ihn Ramelow in Thüringen in sein Schattenkabinett. 2011 erlebt Hoff in Berlin mit, wie Rot-Rot nach Fehlentscheidungen und inneren Konflikten die Mehrheit verliert. Inzwischen ist er, der nebenbei eine Honorarprofessur an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin übernommen hat, ein überzeugter Realpolitiker. Mit dem Linksaußen-Flügel seiner Partei kann er genauso wenig anfangen wie dieser mit ihm.
Der Staatskanzleichef betrachtet Thüringen als Modellversuch. Sein Ziel ist, frei nach Antonio Gramsci, eine linke Hegemonie in Deutschland. In einem Buch, das er 2014 veröffentlicht, klingt schon im Titel eine alte Doktrin Lenins an: „Die Linke: Partei neuen Typs?“ 31Darin entwirft Hoff das Bild einer Organisation, die über eine kulturelle Hoheit in der Gesellschaft zur politischen Herrschaft gelangt. Zugleich distanziert er sich jedoch von den totalitären Tendenzen Gramcis, ja, er kehrt ihn sogar strategisch um.
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