Die „Moskauer“ kritisierten die staatliche Industrialisierungsstrategie, weil diese die Produktionsmittelindustrie begünstigte. Nach der Jahrhundertwende führte dies manchen „Moskauer“ folgerichtig in eine gemäßigte Opposition zur Regierung, nach der Revolution von 1905 dann in Parteien, die Änderungen des Wirtschaftskurses verlangten. Darüber hinaus förderten sie Wohlfahrtseinrichtungen oder als Mäzene die Künste. Mit prachtvollen Bauten prägten sie das moderne Stadtbild. Ihre Verbindung von geschäftlichem und gesellschaftlichem Engagement brachte sie dazu, nach der Februarrevolution von 1917 die Provisorische Regierung zu unterstützen, teilweise sogar als Minister.
Einen anderen Typus bildete der „Petersburger Unternehmer“. Dieser stammte in der Regel nicht aus der Bauernschaft, sondern hatte als Staatsbeamter, Ingenieur oder Techniker seine Berufslaufbahn begonnen. Charakteristisch war eine Tätigkeit als „Manager“ oder leitender Angestellter in Aktiengesellschaften und Banken. Er befürwortete eine Fremdfinanzierung der Riesenbetriebe in den Bereichen des Brenn- und Rohstoffwesens, der Metallindustrie und dabei vor allem der Rüstungsindustrie durch Auslandskapital und Staatsaufträge. Entsprechend eng sah seine Verflechtung mit dem Staatsapparat aus, zumal ihn die staatliche Politik begünstigte.
Selbstverständlich traten diese Unternehmertypen nicht nur in den beiden Metropolen des Zarenreiches auf, und selbstverständlich gab es auch andere Formen des Unternehmertums in Russland. Sie verdeutlichen aber besonders gut die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs, die Vielfalt der Verhaltensweisen und Lebensformen sowie die Zusammenhänge von wirtschaftlicher Aktivität und politischer Orientierung. Obwohl die Unternehmer zahlenmäßig nur eine kleine Schicht darstellten, stieg ihr Einfluss stetig.
Zahlreiche Bauern verließen ihre Dörfer, um in ländlichen oder städtischen Industriezentren als Arbeiter ein besseres Leben zu suchen. Der überwiegende Teil der [<<18] Industriearbeiterschaft kam vom Land. Dieser Zuzug in die Stadt war an sich gar nicht so einfach. Die „Bauernbefreiung“von 1861 hatte zwar die persönliche Freiheit aus der Leibeigenschaft gebracht, nicht aber die Freizügigkeit. Die Dorfgemeinde, die obščina , musste die Erlaubnis geben, wenn jemand wegziehen wollte. Auf diese Weise sollte die Steuerkraft des Dorfes, für die die obščina solidarisch haftete, erhalten bleiben. Ebenso wurde beabsichtigt, eine Verarmung der Stadtbevölkerung durch eine Massenzuwanderung von Arbeitskräften, die weder hätten beschäftigt noch angemessen untergebracht werden können, zu verhindern. Doch die seit den 1880er-Jahren rasch anwachsende Industrie verstärkte die Hoffnungen auf ein höheres Einkommen außerhalb der Landwirtschaft und damit auch die Bereitschaft der Dorfgemeinden, etliche Bewohner gehen zu lassen: Meistens behielten diese „Bauern-Arbeiter“ ihren Landanteil und damit das Recht, jederzeit – zu Saisonarbeiten oder zur eigenen Sicherheit in Notfällen – wieder zurückkehren zu können. Dafür zahlten sie ihre Steuern weiter und schickten auch, wenn möglich, zusätzlich Geld, so dass sich insgesamt die finanzielle Situation im Dorf verbessern konnte. Die Bewirtschaftung des Landes übernahmen Angehörige.
Die Erwartungen, in den Städten ein schöneres Leben als in den Dörfern zu finden, erfüllten sich allerdings häufig nicht. Lange Arbeitszeiten von zwölf Stunden, die bis 1913 allmählich auf zehn Stunden sanken, oft schwierige Arbeitsbedingungen und eine strenge Arbeitsdisziplin, deren Verletzung hohe Strafen nach sich zog, wurden im Durchschnitt mit einem verhältnismäßig niedrigen Lohn entgolten. Die Lebenshaltungskosten lagen hingegen sehr hoch. Besonders erbärmlich waren die Wohnverhältnisse. Vielfach wurden Männer und Frauen in Baracken oder riesige Schlafsäle gepfercht. Daneben gab es zahlreiche „Schlafgänger“, die lediglich ein Anrecht auf eine Schlafstelle besaßen und diese sich noch mit einem zweiten Mieter teilen mussten, der ihren Platz einnahm, während sie arbeiteten. In den Slums herrschten katastrophale hygienische Zustände, verbreiteten sich Alkoholismus, Prostitution und Kriminalität. Allein in St. Petersburg fielen 1908 14.000 Menschen einer Choleraepidemie zum Opfer.
Abb 1 Dieser Arbeiterschlafsaal mit hölzernen Pritschen in der Moskauer Textilfabrik „Trechgornaja“ galt seinerzeit als modern, weil er hell, luftig und gut beleuchtet war. Fotografen: Édouard und Auguste de Jongh, um 1898. [Bildnachweis]
Wie in anderen Ländern versuchten auch in Russland die Arbeiterinnen und Arbeiter, wenigstens etwas an „Eigen-Sinn“ unter den drückenden Verhältnissen zu retten. Unternehmer klagten immer wieder über Bummelei und „Schwänzen“, über Krankmeldungen und raschen Arbeitsplatzwechsel. Die größte Hilfe, in den Betrieben und städtischen Lebensbedingungen zurechtzukommen, stellten genossenschaftliche Organisationen dar: die arteli, in denen sich „Bauern-Arbeiter“ zusammenschlossen, sowie Landsmannschaften. Diese vermittelten den Zuwandernden – überwiegend waren es junge Männer – eine Arbeitsstelle und eine Wohnung, handelten oft den Lohn aus, standen bei auftretenden Alltagsproblemen zur Seite und zeigten sich bei Arbeitskämpfen [<<19] solidarisch. Darüber hinaus gelangten über die Landsleute Nachrichten von der Stadt ins Dorf und umgekehrt. Ein Informations- und Kommunikationsnetz entstand, das seinesgleichen suchte und in den späteren Revolutionen eine wichtige Rolle spielte.
So wie die „Bauern-Unternehmer“ in gewissen Verhaltensweisen Bauern blieben – Fedor M. Dostoevskij nannte den Kaufmann einmal einen „verdorbenen Bauern“3 –, so streiften „Bauern-Arbeiter“ nicht ohne weiteres bäuerliche Gepflogenheiten ab. Heiratstermine richteten sich oft immer noch nach kirchlichen Traditionen oder nach [<<20] landwirtschaftlichen Erfordernissen: Während der Fasten-, der Aussaat- und der Erntezeit wurde auch in der Stadt selten geheiratet. Eine ganze Reihe von Arbeiterfamilien hielt sich Hühner, Schweine oder Schafe – mit unvorstellbaren Folgen für die Hygiene unter den beengten städtischen Wohnverhältnissen. Das Rollenverständnis von Mann und Frau spiegelte häufig das patriarchalische bäuerliche Muster. In Ess- und Trinksitten, in Begriffen von Ehre und Gerechtigkeit, in religiösen Gewohnheiten und bestimmten Bräuchen drückten sich dörfliche Überlieferungen aus. Wenn etwa ein Vorgesetzter, der sich unbeliebt gemacht hatte, von Arbeitern in einem Schubkarren, einen dreckigen Sack über den Kopf gestülpt, herumgefahren wurde, so erinnert dies an rituelle Rügebräuche aus dem Dorf.
Dort veränderten sich nach der „Bauernbefreiung“ die Zustände zwar langsam, teilweise aber doch tiefgreifend. Die Bauern genossen zunächst einmal, abgesehen von der persönlichen Freiheit, wenig Vorteile durch die Agrarreform. Ihre Dienstleistungen an die Gutsbesitzer blieben erhalten, mussten jetzt allerdings vertraglich geregelt werden. Das Land, das sie bisher bewirtschaftet hatten, sollten sie kaufen; der Staat gewährte 80 Prozent der Summe als Darlehen. Trotzdem konnten sich das zahlreiche Bauern nicht leisten. Sie wählten den „Bettelanteil“ – ein Viertel des bisherigen Landes –, für den sie nichts bezahlen mussten und der sie zugleich von allen Verpflichtungen gegenüber den Gutsherren löste. Wem es nicht gelang, zusätzlich Land zu pachten oder zu kaufen, konnte jetzt kaum existieren. Viele Bauern standen schließlich schlechter da als vor 1861. Ein Großteil empfand die Folgen der Befreiung als Unrecht: Nach wie vor waren sie davon überzeugt, dass das Land eigentlich ihnen gehöre und die Adligen es ihnen geraubt hätten. Zwar galt ihnen Zar Alexander II. als „Befreier“. Aber je deutlicher es wurde, dass der Zar letztlich nicht auf ihrer Seite stand, desto stärker musste seine Autorität ins Wanken geraten.
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