2.2 Das Wissen und seine Voraussetzungen
Platon liebt solche Geschichten, aber er würde sie nicht erzählen, wenn es damit nicht etwas Tieferes auf sich hätte. Was aber bedeutet die Geschichte und Sokrates Auslegung seiner Metapher, er übe die Hebammenkunst für geistige Produkte aus? Zunächst sind darin ein paar Anspielungen auf die Rolle des Sokrates in der Athener Gesellschaft enthalten: z. B. dass er die Leute ausfragt und über ihn gespottet wird. Das greift zuletzt auch auf sein Gerichtsurteil voraus. Sein berühmter Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ hat für ihn dagegen einen spezifischen Sinn; dass Sokrates wirklich gar nichts weiß, kann nur ironisch gemeint sein. Im Dialog Protagoras behauptet er auch einmal, ein schlechtes Gedächtnis zu haben, und Platon lässt ihm durch Alkibiades widersprechen: Wenn sich einer der Anwesenden alles haarklein gemerkt hat und wiedergeben kann, dann sei es Sokrates (Protagoras 336d). In den Dialogen lässt Platon Sokrates immer wieder die Dichter und Philosophen zitieren, die er gelesen hat. Er kennt auch die Verhältnisse in Athen sowie die Geschichte der Stadt und kann souverän darauf zurückgreifen.
Die Frage, die sich für ihn dabei stellt, ist, ob das etwas Rechtes ist, was er da weiß, ob das Kenntnisse sind, die für eine gerechte Lebensführung taugen, die ihm sagen, was richtig zu tun ist und was nicht. In diesem Sinne betont er, dass er im Unterschied zu den Politikern, Dichtern und Sophisten nichts weiß. Diese geben nur vor, etwas zu wissen. Die Sophisten meinen zudem, dass sie das, was sie nur vorgeben zu wissen, lehren könnten, vor allem die Tugend und die Gerechtigkeit. Sie glauben etwas zu wissen, können ihm aber, wenn er sie fragt, keine Auskunft geben.
Es geht also um ein spezielles Wissen. Für dieses beansprucht Sokrates, beurteilen zu können, ob es etwas Rechtes ist, was andere darüber sagen. Zumeist enden die Dialoge, vor allem die frühen, aporetisch, d. h. in der Ausweglosigkeit, in einer Situation also, in der sich die bisherige Art des Fragens als Sackgasse erweist. Ist die Rede vom Nicht-Wissen dann Koketterie? Es geht um ein bestimmtes Wissen, das Sokrates sucht und er scheint sagen zu wollen, dass die Suche wichtiger ist, als es die Antworten sind. Diese können immer nur vorläufig sein, sind revidierbar und immer wieder aufs Neue zu diskutieren. Es gibt im Leben und der Lebensführung nichts Endgültiges.
Der Adressat des sokratischen Fragens hat die Erkenntnis der Anlage nach schon in sich. Sie ist, eben wie ein zu gebärendes Kind, bereits vollständig in ihm angelegt. Beides aber muss weiter gepflegt werden, weil es sonst missrät. Was ist das aber für ein Wissen, das wir selbst hervorbringen müssen, das uns offenbar niemand beibringen kann?
Einmal ist es das Wissen darum, wie man gerecht lebt. Sokrates scheint behaupten zu wollen, dass wir im Grunde den Unterschied zwischen gerecht und ungerecht sehr gut kennen. Sind wir an einer Sache unbeteiligt, so wissen wir ganz genau zu beurteilen, wie entschieden werden soll, wenn wir die Sache selbst richtig erfassen. Auch bei anderen sind wir streng, für uns selbst machen wir dagegen gerne eine Ausnahme.
Unser Leben müssen wir alle führen, das kann uns auch keiner abnehmen. Dass wir dazu grundsätzlich nicht in der Lage sind, wird man nicht annehmen wollen. Hierzu gehört ein Wissen, das uns niemand vermitteln kann. Sind dafür Erfahrungen unnötig? Nein, das sicher nicht! Aber letztlich helfen die Erfahrungen von anderen wenig, wir müssen das meiste selbst erleben. Das führt uns zum entscheidenden Punkt: Wissen besitzt man nicht wie eine Hose oder ein Haus. Diese Dinge bestehen auch unabhängig von uns. Wissen dagegen können wir mit anderen teilen, ohne dass wir es dadurch verlieren würden.
Das Wissen und unsere Erfahrungen sind unmittelbar von uns selbst abhängig, d. h. wir müssen sie auch selbst hervorbringen. Das hat einen spezifisch pädagogischen Sinn – wie so vieles bei Platon. Es bedeutet, dass niemand einem anderen etwas beibringen oder lehren kann, was dieser nicht selbst in seiner Seele und völlig für sich hervorbringt. Wissen muss begriffen werden, selbst nachvollzogen, von sich aus geboren werden. Ob ich verstehe, was mir jemand erklärt, hängt letztlich von mir ab. Es kann eine schlechte Erklärung sein, und ich verstehe sie trotzdem, weil ich weiß, was er meint; es kann eine gute, eine hervorragende Erklärung sein, ich verstehe sie aber nicht, weil ich nicht in der Lage bin, sie mir selbst begreiflich zu machen. Unter der Seele versteht Platon das Gesamtvermögen aller sinnlichen, vitalen, seelischen (auf sich selbst bezogenen), emotionalen und geistigen Bezüge.
Selbst, wenn Sokrates alles Relevante wüsste, derjenige, dem er etwas erklärt, muss die Erkenntnis selber machen, sonst ist sie kein Wissen, sondern ihr Inhalt wird bestenfalls nachgeplappert. Was einer nachplappert und somit nur vermeintlich versteht, begreift er eben nicht wirklich. Sich darauf etwas einzubilden, weil man bei bestimmten Stichworten anderes assoziiert, hat mit Bildung, Wissen und Kenntnissen nichts zu tun. Nur das, was man organisch und in seinem Vollsinn verstanden hat, ist wahre Erkenntnis – freilich nur, wenn sie richtig ist. Jedes neue Wissen muss in einem Prozess der Aneignung einschließlich seiner inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen durchdrungen und mit dem bisherigen Wissen verknüpft werden.
Die Frage stellt sich: Können wir auch Falsches verstehen? Wir können zwar meinen, etwas verstanden zu haben. Doch wenn wir danach bemerken, dass unser Urteil nicht stimmt, sind wir nicht mehr der Ansicht, dass wir vorher etwas begriffen haben. Wir sprechen dann davon, dass wir uns zuvor getäuscht haben.
Natürlich besteht beim Wissen immer die Möglichkeit, dass wir uns täuschen. Das ist für die Konzeption der wahren Erkenntnis fatal, denn das setzt voraus, dass wir nie von echter Erkenntnis sprechen können, weil immer Zweifel angebracht sind. Aber dieser Umstand gehört zum menschlichen Streben nach Wissen dazu. Deswegen darf man nach Sokrates vom Fragen und Nachfragen nicht ablassen, man muss die Sachen immer genau prüfen und möglichst von allen Seiten, die eine solche Betrachtung zulassen. Darin hat er offenbar eine große Erfahrung, so dass er gleich sieht: Stimmt das Ergebnis in sich und mit den Erfahrungen überein, oder liegt da etwas schief?
2.3 Das sokratische Nichtwissen
Angesichts der skeptischen Grundhaltung drängt sich die Frage auf: Wissen wir wirklich gar nichts, wie Sokrates behauptet? Wir haben doch bestimmte Kenntnisse, Fertigkeiten, ein Faktenwissen usf. Für Sokrates, und damit für die ganze Philosophie, geht es aber nicht um ein solches positives Wissen, das sich im Übrigen auch ständig ändert, selbst in den Naturwissenschaften. Philosophisches Wissen gibt es in diesem Sinn gar nicht, weil das Reflektieren und Nachdenken, selbst bei methodologisch völliger Durchsichtigkeit, immer wieder von Neuem beginnt und nie zum Ende kommt.
Das liegt an unserer begrenzten Auffassungsgabe, an den unendlichen Möglichkeiten des Lebens, am Bewusstsein um unser unausweichliches Ende des irdischen Daseins, an den Dichotomien und den Widersprüchlichkeiten der gesamten menschlichen Existenz, und offenbar auch an den Voraussetzungen, die wir für jedes positive Wissen machen müssen. Diese können wir aber nie vollständig und absolut erfüllen.
Wir sind von unserer Vergangenheit geprägt und müssen uns auf eine Zukunft hin frei entwerfen; wir sehnen uns nach Unendlichkeit – im Wissen darum, dass wir sterben werden; wir sind zusammengesetzt aus physischen und psychischen Momenten, die nicht aufeinander rückführbar sind, weil ein Eindruck oder eine Wahrnehmung bis in alle Ewigkeit etwas anderes als ein neurophysiologisches Muster sein wird; wir streben nach Wahrheit und bekommen immer nur etwas Vorläufiges. Manchmal begnügen wir uns auch mit der Unwahrheit oder wollen sie hören. Wir wollen alles richtig machen und machen doch so vieles falsch. Wir versuchen klar und deutlich zu sprechen und zu schreiben und dennoch gibt es Missverständnisse. Wir glauben an Gott, den Menschen oder das Universum und wissen über das eine so wenig wie über das andere.
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