Udo Schnelle - Theologie des Neuen Testaments
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Theologien des Neuen Testaments
H.J. HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie I.II, hg. v. A.Jülicher/W.Bauer, Tübingen 21911; R.BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. O.Merk, Tübingen 91984; H.CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, hg. v. A.Lindemann, Tübingen 41987; K.H. SCHELKLE, Theologie des Neuen Testaments I-IV, Düsseldorf 1968–1976; W.G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen, Göttingen 31976; L.GOPPELT, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. J. Roloff, Göttingen 31978; J.JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 31979; W.THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I.II.III, Münster 1981. 1998. 1999; H.HÜBNER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II.III, Göttingen 1990. 1993. 1995; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments I.II, Göttingen 1992. 1999; A.WEISER, Theologie des Neuen Testaments II: Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; J.GNILKA, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg 1994; K.BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 21996; B.S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel I.II, Freiburg 1994. 1996; G.STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F.W. Horn, Berlin 1996; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000; F.VOUGA, Une théologie du Nouveau Testament, Genf 2001; F.HAHN, Theologie des Neuen Testaments I.II, Tübingen 32011; U.WILCKENS, Theologie des Neuen Testaments I.II.III.IV, Neukirchen 2002.2003.2005; K.NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments, Wien 2003; I.H.MARSHALL, New Testament Theology, Downers Grove 2004; PH. F.ESLER, New Testament Theology. Communion and Community, Minneapolis 2005; F. J. MATERA, New Testament Theology. Exploring Diversity and Unity, Louisville 2007; J. D. G. DUNN, New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009.
Eine Theologie des Neuen Testaments muss zweierlei leisten: 1) Die Gedankenwelt der ntl. Schriften erheben und 2) sie im Kontext gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisses zur Sprache bringen. Sie partizipiert gleichermaßen an verschiedenen Zeitebenen; es gilt, das Vergangene zu vergegenwärtigen, zu explizieren und ihm einen zukunftsrelevanten Status zu verleihen. Damit ist die ntl. Theologie eingebunden in die Frage nach der bleibenden Bedeutung vergangenen Geschehens und somit immer ein Teil der Geschichtswissenschaften. Sie hat teil an der geschichtstheoretischen Debatte und muss nach dem Wesen und der Reichweite historischen Erkennens fragen. Indem sie dies tut, befindet sie sich bereits innerhalb wissenschaftstheoretischer Erwägungen, wie Vergangenheit/Geschichte und damit auch Wirklichkeit entstehen und welche Kategorien dabei eine zentrale Rolle spielen. Wirklichkeit ist nicht jenseits menschlicher Deutungsleistungen zu erfassen, die das Geschehene innerhalb von Erfahrungswelten kanalisieren und ihm in unterschiedlicher Weise Bedeutung zuschreiben. Diese Zuschreibungsprozesse sind immer auch Sinnbildungen, denn sie zielen als Vergewisserung, Erweiterung oder Neuaufbruch immer auf gültige Orientierung. Sie vollziehen sich stets als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d.h. Deutungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll 1. Sinn ist dem menschlichen Sein eingeprägt und erwächst aus Ereignissen, Erfahrungen, Einsichten, Denkprozessen und Deutungsleistungen und verdichtet sich zu Konzeptionen, die inhaltlich eine zeitübergreifende Perspektive für zentrale Lebensfragen bieten, narrativ präsentiert werden können und in der Lage sind, normative Aussagen zu formulieren und kulturelle Prägungen zu entwickeln 2. Die Sinn-Kategorie 3ist in besonderer Weise geeignet, die Welt des Neuen Testaments und die Gegenwart miteinander in Verbindung zu setzen. Die Wirklichkeit war und ist zu jeder Zeit durch ständige Sinnbildungsprozesse gekennzeichnet, wobei die religiöse Sinnbildung als ein zentrales Element kultureller Sinnbildung immer auch an parallelen Sinnbildungsprozessen (in der Politik, Philosophie, Kunst, Dichtung, Wirtschafts- und Sozialstruktur) partizipiert. In der griechisch-römischen Antike wurden auf den Gebieten der Religion, Philosophie, Kunst, Politik und Naturwissenschaften ebenso Sinnbildungsleistungen erbracht wie in der Gegenwart. Das Leben ist immer eine Sinnverwirklichung, so dass es nicht um die Frage geht, ob Menschen Sinnbildungen vornehmen, sondern welche Ressourcen, Struktur, Qualität und argumentative Kraft sie aufweisen.
Für eine ntl. Theologie ist der Sinnbegriff von großer Bedeutung, denn er vermag Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Gottes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen erfasst. Das Neue Testament als Basisurkunde des Christentums ist eine Sinnbildung mit einer außergewöhnlichen Wirkungsgeschichte. Das frühe Christentum entfaltete sich in einem multi-kulturellen Umfeld mit zahlreichen attraktiven religiösen und philosophischen Konkurrenzsystemen 4. Es gelang ihm, auf dem Fundament der im Neuen Testament vielfältig erzählten Jesus-Christus-Geschichte ein Sinngebäude zu entwerfen, zu bewohnen und ständig auszubauen, das menschliches Leben im Ganzen zu gründen, zu festigen und zu strukturieren vermochte. Dieses Sinngebäude verfügte offenbar über eine große Deutungskraft und es muss das Ziel einer Theologie des Neuen Testaments sein, die Grund-Elemente dieser Deutungskraft zu ermitteln und darzustellen. Die Sinn-Kategorie als hermeneutische Konstante verhindert dabei eine Verengung auf historistische Faktenfragen, denn es kommt darauf an, wie die ntl. Überlieferungen historisch angeeignet und theologisch erschlossen werden können, ohne ihren religiösen Gehalt und ihre sinnbildende Kraft zu zerstören. Auf die Wahrheitsfrage wird dabei nicht verzichtet, denn Wahrheit ist verbindlicher Sinn. Ziel ist nicht ein entkerntes christliches Haus, sondern die Erfassung seiner Architektur, der tragenden Decken und Wände, der Türen und Treppen, die Verbindungen schaffen und der Fenster, die Ausblicke ermöglichen. Zugleich eröffnet die Sinn-Kategorie der Theologie als einer führenden Sinnwissenschaft die Möglichkeit, auf der Basis ihrer maßgeblichen Überlieferung mit anderen Sinnwissenschaften in einen kritischen Diskurs zu treten.
1.1Das Entstehen von Geschichte
Jesus von Nazareth ist eine Gestalt der Geschichte und das Neue Testament ein Zeugnis der Wirkungsgeschichte dieser Person. Wenn auf einer solchen Basis mit 2000 Jahren Abstand eine Theologie des Neuen Testaments geschrieben wird, zeigen sich unausweichlich die Grundprobleme historischen Fragens und Erkennens. Wie entsteht Geschichte/Historie 5? Was passiert, wenn in der Gegenwart ein Dokument der Vergangenheit mit einem Zukunftsanspruch interpretiert wird? Wie verhalten sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwärtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander 6?
Interesse und Erkenntnis
Das klassische Ideal des Historismus, nur zu zeigen, wie es eigentlich gewesen 7ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat 8. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist 9. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt 10. Die eigentliche Zeitstufe des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart 11, in die er unentrinnbar verwoben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwärtig Vergangenen entscheidend prägen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt 12. Jeder Mensch hat und pflegt Denkgläubigkeiten. In jedes Bild der Welt, das ich mir mache, ist ein Bild meiner selbst eingezeichnet! Zudem sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungsprozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich not-wendigerweise ständig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das historische Erkennen bestimmen. Jede wissenschaftliche Disziplin führt apriorische Axiome mit sich, die historisch entstanden sind. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine Reflexion über seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben 13. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die eigene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verändert immer auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von Realität und die vergangene Realität verhalten sich nicht wie Original und Abdruck 14. Deshalb sollte nicht von ‚Objektivität‘, sondern von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden 15. Schließlich sind jene Nachrichten, die als historische ‚Fakten‘ in jede historische Argumentation einfließen, in der Regel auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Bereits mit Sinn Versehenes wird notwendigerweise einer weiteren Sinnbildung unterzogen, um so Geschichte zu bleiben. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ‚an sich‘ ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen 16vergangener Ereignisse. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ‚nachzuzeichnen‘ oder zu ‚re-konstruieren‘ suggeriert eine Kenntnis des Ursprünglichen, die es in der vorausgesetzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht einfach identisch mit Vergangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwärtige Stellungnahme, wie man Vergangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine ‚Fakten‘ im ‚objektiven‘ Sinn, sondern innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.“ 17
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