1 ...6 7 8 10 11 12 ...38 Eine interessante Hypothese ist, dass extreme traumatische Belastungssituationen regelmäßig einen solchen „Kurzschlusseffekt“ ausüben, indem sie die Ebenen des ontologischen Stufenmodells in pathologischer Weise zusammenführen. Die Folge ist, dass Naturgesetze und funktionale Normen, die normalerweise nur auf den Ebenen 1 und 2 Geltung haben, nun plötzlich auch die psychosoziale Ebene regieren. Das Trauma kann eine künstliche „Physiologisierung“ der psychosozialen Systemebene bewirken. Die Fähigkeit zur freien Bestimmung von Sollwerten und Handlungszielen wird dann tendenziell außer Kraft gesetzt. Im engeren, vom Trauma bestimmten und verzerrten Persönlichkeitsbereich folgt das Individuum funktionellen bzw. statistischen Normen und wird durch die traumatische Reizkonstellation so vollständig beherrscht, wie es das Reiz-Reaktions-Schema im klassischen → Behaviorismus vorsieht. Dies insbesondere in Erlebens- und Verhaltensbereichen, die vom → Wiederholungszwang betroffen sind und Tendenzen der → Traumatophilie unterliegen. Die Erklärung kann hier aber immer nur eine quasi-physiologische sein. Auch hier setzt die umfassende Erklärung an bei der traumabedingten Modifikation von Qualitäten der psychosozialen Systemebene. Die Möglichkeit, Handlungsziele und Werte innerhalb des von den Ebenen 1 und 2 freigelassenen „Spielraums“ unseres Verhaltens (Waldenfels 1980) zu entwerfen und diese mit adäquaten Mitteln zu verwirklichen ist (partiell) verloren. Traumatisch gebrochene Orientierungs- und Verhaltensschemata sind häufig durch eine veränderte Zielorientierung bestimmt, in der Sphäre der Mittel zur Zielverwirklichung wie auch der gesetzten Ziele selbst (vgl. die beiden Typen von „Dysfunktionalität“ in Tabelle 1, Abschnitt B3). Sie erwecken den Anschein rein „biologisch“ gesteuerter Abläufe und könnten dem biologischen Reduktionismus Vorschub leisten. Unser Mehr-Ebenen-Modell kann aber verdeutlichen, dass der biologische Determinismus keine primäre Gegebenheit ist, sondern sich dem traumatischen Verlust selbstregulativer Eigenschaften der psychosozialen Ebene verdankt.
Aus den Überlegungen dieses Abschnitts folgt für die Psychotraumatologie, dass sie mit Begriffen arbeiten muss, die der psychosozialen Ebene und ihrer Verletzlichkeit in besonderer Weise angemessen sind. Wir werden dafür später einige Konzepte vorschlagen wie „Traumaschema“, „traumakompensatorisches Schema“ oder „Desillusionierungsschema“, um die Desorientierung und die Versuche zur Reorientierung zu analysieren, die traumatische Erfahrungen in der Regel auslösen. Organische Metaphern und parallel zu ihnen die Ansätze biologischer Traumaforschung zeigen die verletzten funktionalen Normen der biologischen Wirklichkeitsebene auf und sind insofern für die Traumaforschung unentbehrlich. Als Rahmenkonzepte hingegen eignen sie sich nicht. Letztere müssen der psychosozialen Ebene entstammen und deren Eigenheiten zum Ausdruck bringen. Andernfalls würde Psychotraumatologie auf (somatische) Traumatologie reduziert und es ergäbe sich eine weitere Variante des naturwissenschaftlichen Reduktionismus. Psychotraumatologie verlangt, seelische Verletzungen des Menschen bis in seine Biosphäre hinein zu verfolgen und die Erscheinungen des Traumas auch aus der Verletzung der dort geltenden Regelsysteme zu erklären. Als Psycho-Traumatologie erhält die Traumaforschung jedoch den umfassenderen Bezug zum Welt- und Selbstverhältnis des Menschen aufrecht und thematisiert damit zugleich die spezifisch menschliche Form von Verletzlichkeit.
1.3 Zur Geschichte der Psychotraumatologie
Seelische Verletzungen als Folge von Katastrophen, Verlusten und Kränkungen sind so spektakuläre Erscheinungen, dass sie der Aufmerksamkeit der Menschen zu keiner Zeit entgangen sein dürften. Die „natural history“, gewissermaßen die „Naturgeschichte“ der Psychotraumatologie enthält zahlreiche Belege, dass die Menschen seit frühester Zeit über Kenntnisse und Praktiken zur Milderung traumatischer Erfahrungen verfügten. Wilson (1989) beschreibt Rituale verschiedener Völker, die diesen Zweck erfüllen sollen. Zu unterscheiden von dieser naturwüchsigen Geschichte der Psychotraumatologie ist die Geschichte der modernen Wissenschaft und ihrer Beiträge zur Begründung explizit traumatologischer Konzepte psychologischer oder psychosomatischer Art. In die „natural history“-Forschung fallen folgende Fragen: Wie sind die Menschen in ihrer Geschichte und im interkulturellen Vergleich mit psychischer Traumatisierung umgegangen? Wie haben sie das Phänomen und die Folgen zu beschreiben versucht und welche natürlichen, „intuitiven“ Maßnahmen haben sie gegen Traumata entwickelt? Die wissenschaftlichen Ansätze unterscheiden sich von diesen intuitiven Versuchen durch bewusste Reflexion, Klassifikationsversuche und systematische Forschung. Weder die natürliche Geschichte der Psychotraumatologie noch ihre wissenschaftliche aber sind allein aus sich heraus zu verstehen. Sie müssen vielmehr untersucht werden im Zusammenhang mit erschütternden Ereignissen in der Sozialgeschichte.
Verschiedene wissenschaftliche Konzepte zur Erklärung und Heilung psychischer Traumata sind bei historischen Anlässen entstanden. Das Konzept der „traumatischen Neurose“ wurde im 19. Jahrhundert entwickelt und im 1. Weltkrieg ausgebaut, als die Psychiatrie mit den Opfern von Kriegsneurosen konfrontiert war. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit psychischer Traumatisierung wurde nach dem 2. Weltkrieg durch Überlebende des Holocaust angeregt. In den Entschädigungsverhandlungen vertraten vor allem deutsche Psychiater die These, KZ-Folgeschäden seien maßgeblich auf die erbliche Veranlagung der Betroffenen zurückzuführen. Pross (1995) hat dieses unrühmliche Kapitel der deutschen Nachkriegspsychiatrie unter dem Titel „die Verfolgung der Verfolgten“ medizingeschichtlich aufgearbeitet. Die unsinnige Argumentation hat in der Folgezeit jedoch zu verstärkten Forschungsbemühungen geführt, die unsere Kenntnis der Traumafolgen allmählich auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.
Ein weiteres historisches Ereignis, das zur Entwicklung der Psychotraumatologie beitrug, war der Vietnamkrieg. Viele Kriegsveteranen entwickelten psychopathologische Auffälligkeiten. Sie mussten in eigenen Anlaufstellen und „veteran-centers“ betreut werden. Aus der Arbeit der Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter und Pädagogen mit dieser Klientel erwuchs allmählich ein immer detaillierteres Wissen über den Zusammenhang zwischen Kriegssituation und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, das u. a. zur Formulierung des sog. „posttraumatischen Stresssyndroms“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) geführt hat. Auch Naturkatastrophen haben die Traumaforschung verstärkt, wie etwa die Flutkatastrophe bei Buffalo Creek in West-Virginia im Jahre 1972. Aus der ersten Hilflosigkeit gingen intensive Forschungsarbeit und therapeutische Bemühungen um die Opfer hervor.
Neben Naturkatastrophen und Kriegen sind als Anstoß für die psychotraumatische Forschungsarbeit auch soziale Bewegungen zu nennen, vor allem solche, die sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wenden. Die Arbeiterbewegung und andere emanzipatorische Strömungen haben ausbeuterische Arbeitsverhältnisse angeprangert, zur Humanisierung der Arbeit beigetragen und zusammen mit den geistigen Kräften der Aufklärung die Abschaffung der Kinderarbeit in Europa erreicht. Seit der Französischen Revolution wurde die Folter in aller Welt geächtet. Die Frauenbewegung hat immer wieder verdeckte Gewaltverhältnisse gegen Frauen und Kinder an die Öffentlichkeit gebracht. Initiativen gegen Kindesmisshandlung und sexuellen Kindesmissbrauch sowie allgemein gegen Unterdrückung und Benachteiligung von Kindern sind zu erwähnen, ferner Befreiungsbewegungen sozial unterdrückter Minderheiten und Völker oder Initiativgruppen, die sich mit diesen Befreiungskämpfen solidarisierten. Im Folgenden wenden wir uns zunächst der „natural history“ zu und kehren dann zur wissenschaftlichen Traumadiskussion zurück.
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