Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält. (HA 1, 370)
Will sagen: wenn der Verstand dich vor Schwärmerei bewahrt. Goethe hält also bis zuletzt an jener „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (P. Kondylis) fest, um die sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts vor allem bemüht hat. Sich an der Sinnlichkeit vorbei in übersinnliche Dimensionen hineinzuschwärmen, gilt auch Goethe noch als etwas Gefährliches, ja Krankes. Eben hier verläuft die Grenze zwischen Goethe und der Romantik, und damit zugleich die Grenze zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. Wie für die Aufklärer Wieland und Lessing ist auch für Goethe „die Wahrheit des Realen“, das „offenbare Geheimnis“ der „Natur“ (HA 12, 467) das eigentlich Wunderbare, schön und schauerlich, bedrückend und faszinierend in einem, und so der Gegenstand, an dem sich die dichterische Phantasie vor allem abzuarbeiten hat.
Die „Lehrjahre“ als empfindsamer Roman
In diesem Sinne sind nun auch „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zu lesen, also keineswegs so, wie ihn die Frühromantik interpretiert hat. 58Es handelt sich bei ihnen um einen Roman in der Tradition des empfindsamen Romans der Aufklärung. Ein zentrales Anliegen der Aufklärung ist, wie bereits mehrfach erwähnt, die Darstellung des empfindsamen Individuums, die darstellende Erkundung einer Individualität, die sich in ihrem Ich-Sein wesentlich über „Sinne“, „Herz“
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und „Einbildungskraft“ definiert. In diesem Sinne bringt der empfindsame Roman seit Samuel Richardson (1689–1761), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Laurence Sterne (1713–1768) zugleich das Glück einer individuellen Selbstverwirklichung, die im Ausleben von Sinnlichkeit, Gefühl und Phantasie gründet, und die Gefahren zur Darstellung, die von der „Schwärmerei“ für eine solche Selbstverwirklichung ausgehen, nämlich davon, daß „Herz und Einbildungskraft“ mit einem Individuum durchgehen, so daß es im Gefühlsüberschwang seine Phantasieprodukte mit der Wirklichkeit verwechselt.
Nichts anderes führt Goethe im „Wilhelm Meister“ vor, wie zuvor schon auf andere Weise im „Werther“. Die Figuren der schwärmerischen Innerlichkeit, Mignon, den Harfner, die „schöne Seele“ – und das sind eben die Figuren, die die Frühromantiker vor allem fasziniert haben – läßt Goethe allesamt scheitern; das 6. Buch, die „Bekenntnisse einer schönen Seele“, liest sich fast schon wie eine Parodie auf die „deutsche Innerlichkeit“. Der Held Wilhelm Meister kommt nur davon, weil seine entsprechenden Neigungen von der „Gesellschaft vom Turm“ einer subtilen „Schwärmerkur“ unterzogen werden. Das haben die Frühromantiker zunächst übersehen oder nicht wahrhaben wollen.
Goethe geht also den Weg nicht mit, den die Frühromantiker angesichts der Französischen Revolution und ihrer turbulent-chaotischen Folgen erkunden, den Weg nach innen, und innen nach oben. Statt dessen sucht er sich in Werken wie den „Lehrjahren“ und dem „Faust“ neuerlich der Prinzipien des aufklärerischen Denkens zu vergewissern, trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer Desavouierung durch die Revolution, deren Verlauf von ihm zunächst ja als katastrophal erlebt worden ist. Insofern rücken für Goethe Revolution und Romantik eng zusammen; es sind für ihn beides gleichermaßen Formen eines schwärmerischen Aufs-Ganze-Gehens.
Goethe und die Antike
Hier liegen nun auch die Gründe dafür, daß Goethe anders als die Romantiker am Vorbild der Antike festgehalten hat, 59so sauer ihm dies in Zeiten der Revolution zunächst geworden ist. Natürlich hat
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er nicht mehr geglaubt, daß man die Kunst der Antike unter modernen Bedingungen einfach nachahmen und durch bloße Nachahmung wiederaufleben lassen könne; die Zeiten des frühmodernen Humanismus waren auch für ihn vorbei. Aber er war der festen Überzeugung, daß die Beschäftigung mit der Kunst der Griechen, wie er sie durch einen klaren Wirklichkeitssinn, durch Natürlichkeit und durch eine verfeinerte Sinnlichkeit ausgezeichnet sah, für das zu schwärmender Innerlichkeit neigende moderne Individuum eine Art Medizin sein könnte, ein Heilmittel, das es von seiner Neigung kurieren könnte, sich in Subjektivitäten zu ergehen und in sich selbst zu verlieren, das seinen Realitätssinn schärfen könnte. Die Beschäftigung mit der Kunst der Antike ist für Goethe zunächst und vor allem eine „Schwärmerkur“ für das moderne Individuum.
Dabei geht es ihm keineswegs darum, die Individualisierung, den modernen Drang zu individueller „Selbstverwirklichung“ generell zu begrenzen. Im Gegenteil – gerade solche „Selbstverwirklichung“, solche „Bildung“ des Individuums ist ihm von seinen Anfängen bis zu seinen letzten Arbeiten ein zentrales Anliegen gewesen; als ein „Befreier des Individuums“ und nicht als ein Klassiker wollte er den Deutschen in Erinnerung bleiben. Nicht um der Individualisierung und dem Drang zur „Selbstverwirklichung“ einen Riegel vorzuschieben, fordert er die Orientierung an der Kunst der Antike, sondern um sie zu fördern, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie in der Tat gelingen könne. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er nach 1815 in Werken wie der „Italienischen Reise“ (1817) und dem „Zweiten Römischen Aufenthalt“ (1829) oder auch in dem Zeitschriftenprojekt „Über Kunst und Altertum“ (1816–1832) die Antike verstärkt gegen die romantischen Tendenzen der Zeit in Stellung bringt.
Der Bruch zwischen Romantik und Klassik
Das alles haben die Frühromantiker bei der Lektüre des „Wilhelm Meister“ zunächst überlesen, aber schließlich haben sie es doch gemerkt, und die Enttäuschung war groß. Es kam zum Bruch mit den Weimarer Größen, zunächst mit Wieland, dann mit Schiller und schließlich auch mit Goethe. Die Romantiker verließen Jena, verließen den Dunstkreis Goethes. Friedrich Schlegel denunzierte Goethe vor dem mehr und mehr auf nationalromantische Vorstellungen gestimmten Publikum als einen „deutschen Voltaire“ (GU 1, 295), als einen irgendwie doch ein wenig platten und insofern undeutschen Aufklärer, und bald hat
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man sich trotz des einen oder anderen Wiederannäherungsversuchs nur noch bekämpft.
Die Schimäre der „Hochklassik“
Und damit ein letztes Mal zurück zum alten Epochenschema. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Zeit der sogenannten Hochklassik, daß insbesondere jenes „klassische Jahrzehnt“, das der Höhepunkt der Geschichte der deutschen Nationalliteratur gewesen sein soll, zwar eine äußerst bewegte, an literarischen Aktivitäten reiche, produktive Zeit gewesen ist, daß hier aber keineswegs das eingetreten ist, was man als Durchbruch zu einem kraftvollen und durch nichts zu irritierenden Selbstbewußtsein der deutschen Kultur im Zeichen des einen, alle verbindenden deutschen Volksgeists und zu einer Literatur von unüberbietbarer ästhetischer Vollendung hat begreifen wollen. Goethe ist durch die Französische Revolution verunsichert und erprobt die verschiedensten literarischen Modelle, und neben ihm und seinen Weimarer Mitstreitern Wieland, Herder und Schiller wächst die romantische Bewegung heran, die letztlich ganz andere Ziele verfolgt als die Weimarer Klassik. Der Epochenbegriff Hochklassik faßt, insofern er eine einzige durchgreifende Tendenz, einen einheitlichen Geist der Jahre 1794 bis 1805 behauptet, kaum etwas von dem, was die Literatur damals wirklich beschäftigte. Es sind Jahre eines Auseinanderlaufens der Bestrebungen, eines sich immer mehr verschärfenden Konflikts zwischen Klassik und Romantik, zwischen Aufklärern „trotz alledem“ und Gegenaufklärern.
Jenseits der literarischen Fronten
Vollends unhaltbar wird die Vorstellung vom „klassischen Jahrzehnt“, wenn man sich vor Augen führt, daß in diesen Jahren neben den Weimarer Klassikern und den Romantikern eine ganze Reihe von Autoren aktiv waren, die sich weder der einen noch der anderen Seite zuschlagen lassen und die doch das Bild der Epoche wesentlich mit prägen. Zu diesen Einzelgängern jenseits der literarischen Fronten sind vor allem zu zählen: der alte Klopstock, der in der Goethezeit eine letzte produktive Phase durchlebte und nach wie vor sein Publikum hatte, Karl Philipp Moritz, ein Autor, der lange Zeit vergessen war, dessen Werk jedoch in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebte und in der Germanistik besonders große Beachtung fand, Jean Paul, der meistgelesene Autor der Epoche neben Goethe, und schließlich Hölderlin und Kleist, letztere seinerzeit sehr viel weniger erfolgreich als Goethe, Schiller oder Jean Paul, aber gerade aus heutiger Sicht aus
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