Die Bedeutung wissenschaftlicher Theorien
Die meisten haben allerdings auch die Erfahrung gemacht, dass sie mit dieser Theorie nicht besonders gut zurechtkommen, dass es manchmal mehr Ausnahmen als reguläre Fälle zu geben scheint usw. Für den Sprachwissenschaftler sind solche Erfahrungen eine Herausforderung:|44◄ ►45| Können wir den Sprachgebrauch nicht so beschreiben, dass wir die Regeln verstehen können, brauchen wir dafür nicht vielleicht andere als die bislang benutzten Kategorien? Und so macht man sich an die Entwicklung von Theorien, prüft an der einen oder anderen oder auch an mehreren Sprachen, ob man mit ihnen wohl erfassen kann, welchen Regeln die Sprecher unbewusst ›tatsächlich‹ folgen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass solche Theorien in Wirklichkeit immer nur Modelle des Sprachsystems sind; welchen Regeln die Sprecher ›tatsächlich‹ folgen, können wir nicht wirklich wissen.
Das Laieninteresse an der Sprache
Wenden wir uns nun den Teildisziplinen der ›weichen‹ Linguistik zu, die übrigens keineswegs per se weniger theoretisch oder einfacher ist. Sie ist allerdings von allgemeinerem Interesse. Die explizite Erläuterung der Regeln einer Sprache ist ja besonders relevant für solche Personen, die diese Sprache im Unterricht lernen. Da Muttersprachler ihre Sprache schon beherrschen – und da dafür theoretische Kenntnisse nicht nötig sind – haben diese im Allgemeinen keinen großen Bedarf an den Erkenntnissen der ›harten‹ Linguistik (vgl. dazu Textbeispiel 9), jedenfalls dann nicht, wenn sie sich nicht gerade als Fremdsprachenlehrer betätigen. Ein großes Interesse an Sprache überhaupt sowie der eigenen Sprache im Besonderen und auch ein Bedarf an sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen ist dennoch vorhanden, wie man an Laiengesprächen über Sprache und Sprechen erkennen kann, nicht zuletzt auch an vielen unserer Textbeispiele, die von Sprache handeln, aber nicht von professionellen Linguisten stammen. Um sich vor Augen zu führen, worauf sich dieses Interesse bezieht, muss man sich lediglich vergegenwärtigen, was dem Sprachlerner, in dessen Lage wir uns bislang versetzt haben, noch fehlt.
Warum man in der Schule Fremdsprachen nur relativ schlecht lernt
Wir hatten oben angenommen, dass man sich eine Sprache in ihren Grundzügen etwa innerhalb eines Jahres aneignen kann. Dem steht nun gegenüber die leidvolle Erfahrung, die die meisten Leser dieses Buches gemacht haben werden: Sie haben nicht nur ein Jahr, sondern oft mehrere Jahre lang in der Schule Fremdsprachen gelernt – auch wenn es weniger intensiv war, auf vierhundert Stunden kommt man allemal! –, müssen aber feststellen, dass sie dennoch nicht in der Lage sind, sich in dem Land, dessen Sprache sie erworben haben, befriedigend zu verständigen. Man will im Alltag, auf Reisen usw. zurechtkommen, wozu doch eigentlich auch schon begrenzte Kenntnisse ausreichen sollten, und doch gelingt gerade dies oft relativ schlecht. Was diesen Fremdsprachlern fehlt, ist natürliche Kommunikationserfahrung.
Dass es gerade im Alltag zu Schwierigkeiten kommt, liegt daran, dass man sich im Alltagsverkehr normalerweise nicht der gepflegten Standardsprache bedient. Dies ist aber die einzige Varietät, die man in der Schule sinnvoll vermitteln kann. Es gibt nämlich für die Sprache des alltäglichen Umgangs und für so genannte Substandardvarietäten
Für natürliche Alltagskommunikation muss man den Substandard kennen
überhaupt keine kodifizierte Norm – das Normale ist vielmehr die Abweichung von der Norm, z.B. nachlässige Artikulation. Außerdem haben substandardliche Varietäten – gerade im Gegensatz zum Standard – eine meist nur eingeschränkte regionale Verbreitung; im Norden Frankreichs ist es eben anders als im Süden, wo sollte man da mit dem Unterricht beginnen? Schließlich wäre eine Vermittlung nichtstandardsprachlicher Formen auch deswegen gefährlich, weil sich Fremdsprachler keineswegs in derselben Weise eine Abweichung von der Norm erlauben dürfen wie Muttersprachler. Tun sie dies doch, so erzeugen sie bestenfalls Heiterkeit, schlimmstenfalls zieht ihr Verhalten soziale Abwertung nach sich. Demjenigen, der ein Jahr lang in seiner Heimat eine Fremdsprache gelernt hat, fehlt also das meiste von dem, was wir in Kapitel 5 als Wissensvoraussetzungen betrachtet haben, die zum Sprachwissen im engsten Sinne hinzukommen und die man nur in natürlicher Kommunikation mit Angehörigen der entsprechenden Sprachgemeinschaft lernt. Das umfasst selbstverständlich auch das Lesen verschiedenster Texte in dieser Sprache oder das Anschauen und Hören von Fernsehsendungen usw., so dass man sich auch außerhalb des Landes sehr viel intensiver mit dessen Sprache vertraut machen kann, als es ein normaler Sprachkurs möglich macht.
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Textbeispiel 9: Wer kann Deutsch?
DAMIS. […] Nein, glaube mir, mein lieber Anton: der Mensch ist allerdings einer allgemeinen Erkenntnis fähig. Es leugnen, heißt ein Bekenntnis seiner Faulheit, oder seines mäßigen Genies ablegen. Wenn ich erwäge, wie viel ich schon nach meinen wenigen Jahren verstehe, so werde ich von dieser Wahrheit noch mehr überzeugt. Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Italienisch, Englisch – das sind sechs Sprachen, die ich alle vollkommen besitze: und bin erst zwanzig Jahr alt!
ANTON. Sachte! Sie haben eine vergessen; die deutsche –
DAMIS. Es ist wahr, mein lieber Anton; das sind also sieben Sprachen: und ich bin erst zwanzig Jahr alt!
ANTON. Pfui doch, Herr! Sie haben mich, oder sich selbst zum besten. Sie werden doch das, daß Sie Deutsch können, nicht zu Ihrer Gelehrsamkeit rechnen? Es war ja mein Ernst nicht. –
DAMIS. Und also denkst du wohl selber Deutsch zu können?
ANTON. Ich? ich? nicht Deutsch! Es wäre ein verdammter Streich, wenn ich Kalmuckisch redete, und wüßte es nicht.
DAMIS. Unter können und können, ist ein Unterschied. Du kannst Deutsch, das ist: du kannst deine Gedanken mit Tönen ausdrücken, die einem Deutschen verständlich sind; das ist, eben die Gedanken in ihm erwecken, die du bei dir hast. Du kannst aber nicht Deutsch, das ist: du weißt nicht, was in dieser Sprache gemein oder niedrig, rauh oder annehmlich, undeutlich oder verständlich, alt oder gebräuchlich ist; du weißt ihre Regeln nicht; du hast keine gelehrte Kenntnis von ihr.
ANTON. Was einem die Gelehrten nicht weis machen wollen! Wenn es nur auf Ihr das ist ankäme, ich glaube, Sie stritten mir wohl gar noch ab, daß ich essen könnte.
DAMIS. Du kannst essen, das ist: du kannst die Speisen zerschneiden, in Mund stecken, kauen, herunter schlucken, und so weiter. Du kannst nicht essen, das ist: du weißt die mechanischen Gesetze nicht, nach welchen es geschiehet; du weißt nicht, welches das Amt einer jeden dabei tätigen Muskel ist, ob der Digastricus oder der Masseter, ob der Pterygoideus internus oder externus, ob der Zygomaticus oder der Platysmamyodes, ob –
ANTON. Ach ob, ob! Das einzige Ob, worauf ich sehe, ist das, ob mein Magen etwas davon erhält, und ob mirs bekömmt. – Aber wieder auf die Sprache zu kommen. Glauben Sie wohl, daß ich eine verstehe, die Sie nicht verstehen?
DAMIS. Du, eine Sprache, die ich nicht verstünde?
ANTON. Ja; raten Sie einmal.
DAMIS. Kannst du etwa Koptisch?
ANTON. Foptisch? Nein, das kann ich nicht.
DAMIS. Chinesisch? Malabarisch? Ich wüßte nicht woher.
ANTON. Wie sie herumraten. Haben Sie meinen Vetter nicht gesehn? Er besuchte mich vor vierzehn Tagen. Der redte nichts, als diese Sprache.
DAMIS. Der Rabbi, der vor kurzen zu mir kam, war doch wohl nicht dein Vetter?
ANTON. Daß ich nicht gar ein Jude wäre! Mein Vetter war ein Wende; ich kann Wendisch; und das können Sie nicht.
DAMIS (nachsinnend). Er hat Recht. – Mein Bedienter soll eine Sprache verstehen, die ich nicht verstehe? Und noch dazu eine Hauptsprache? Ich erinnere mich, daß ihre Verwandtschaft mit der hebräischen sehr groß sein soll. Wer weiß, wie viel Stammwörter, die in dieser verloren sind, ich in jener entdecken könnte! – Das Ding fängt mir an, im Kopfe herum zu gehen!
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