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Textbeispiel 8: Die Sprache ist ein Hologramm
Das Institut für Eskimologie liegt in der Fiolstræde. Ich rufe aus einer Telefonzelle am Markt an und werde zu einem Dozenten durchgestellt, der so klingt, als sei er grönländischer Abstammung. Ich erkläre, daß ich ein Band auf ostgrönländisch habe, das ich nicht verstehe. Er fragt, warum ich nicht in das Grönländerhaus gehe.
»Ich will einen Experten. Es geht nicht nur darum zu verstehen, was gesagt wird, ich möchte auch den Sprecher identifizieren. […]« […]
Vor ihm auf dem Tisch steht ein flacher, mattschwarzer, quadratischer Kassettenrecorder. Er legt das Band ein. Der Ton kommt von weit her aus Lautsprechern irgendwo an den Rändern des Raumes. […]
Er hat das Gesicht in den Händen und hört eine halbe Minute lang zu. Dann hält er das Band an.
»Mitte Vierzig. Um Angmagsalik herum aufgewachsen. Nur sehr geringe Schulbildung. Auf ostgrönländischem Fundament eine Spur nördlicherer Dialekte. Aber da oben ziehen sie zuviel herum, als daß man sagen könnte, welche. Wahrscheinlich ist er nie längere Zeit aus Grönland weggewesen.«
Er sieht mich mit hellgrauen, fast milchigen Augen mit einem Ausdruck an, als warte er auf etwas. Plötzlich weiß ich, was es ist. Der Beifall nach dem ersten Akt.
»Beeindruckend«, sage ich. »Läßt sich noch mehr sagen?«
»Er beschreibt eine Reise. Übers Eis. Mit Zugschlitten. Wahrscheinlich ist er Robbenfänger, denn er benutzt eine Reihe von Fachausdrücken, wie zum Beispiel anut für die Hunderiemen. Wahrscheinlich spricht er zu einem Europäer. Für die Lokalitäten benutzt er englische Bezeichnungen. Und mehrere Dinge meint er wiederholen zu müssen.«
Er hat sich das Band nur ganz kurz angehört. Ich überlege mir, ob er mich zum Narren hält.
»Sie mißtrauen mir«, sagt er kalt.
»Ich wundere mich nur darüber, daß man aus so wenig so viel erschließen kann.«
»Die Sprache ist ein Hologramm.«
Er sagt das langsam und nachdrücklich.
»In jeder Äußerung eines Menschen liegt die Summe seiner sprachlichen Vergangenheit. Nehmen Sie doch nur sich selbst … Sie sind Mitte Dreißig. In Thule oder nördlich davon aufgewachsen. Ein Elternteil oder beide Eltern inuit. Sie sind nach Dänemark gekommen, nachdem Sie die grönländische Sprachgrundlage bereits vollständig erworben hatten, aber noch bevor Sie das instinktive Talent des Kindes zur perfekten Erlernung einer Fremdsprache verloren hatten. Sagen wir, Sie waren zwischen sieben und elf Jahre alt. Danach wird es schwerer. Sie zeigen Spuren verschiedener Soziolekte. Sie haben vielleicht in den vornehmen nördlichen Vororten gewohnt oder sind da zur Schule gegangen, in Gentofte oder Charlottenlund. Da ist auch etwas eigentlich Nordseeländisches. Und seltsamerweise auch eine spätere Andeutung von Westgrönländisch.«
Ich mache keinen Versuch, meine Bewunderung zu verbergen.
»Das ist richtig«, sage ich. »Im großen und ganzen ist das richtig.«
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7 Eine Landkarte der Sprachwissenschaft – die Linguistik und ihre Teildisziplinen
Unterschiedliche linguistische Fragestellungen
Nachdem wir die Sprache in ihrer Vielfältigkeit und den Sprachgebrauch in seinem Kontext betrachtet haben, wollen wir uns im Weiteren genauer einzelnen Aspekten zuwenden. Denn um das Funktionieren von Sprache detaillierter zu erläutern, müssen wir uns natürlich jeweils auf bestimmte Elemente konzentrieren und dabei von anderen Gesichtspunkten abstrahieren. Diese Systematisierung verschiedener linguistischer Fragestellungen schlägt sich nieder in einer Aufgliederung sprachwissenschaftlicher Arbeit in verschiedene Teil- oder Subdisziplinen. Eine solche Aufgliederung ist freilich analytischer Art. Jede sprachliche Äußerung und fast jedes sprachliche Phänomen kann man, wenn nicht unter allen, so doch jeweils unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten betrachten. Insbesondere sollte man nicht denken, dass es die Grammatik, die sich auf das Formale bezieht, auf der einen Seite und die Bedeutung, die Inhalte betrifft, auf der anderen Seite gäbe. Die Wahl bestimmter grammatischer Strukturen trägt vielmehr ebenso viel zur Bedeutung einer Äußerung bei wie die Wahl bestimmter Wörter. Wenn man sich also auf formale Aspekte konzentriert, so geschieht dies nicht auf Grund einer dem Phänomen innewohnenden Eigenschaft, |40◄ ►41| sondern auf Grund der Entscheidung des Analysierenden. Man kann sowohl Wörter unter formalen als auch Sätze bzw. Satzstrukturen unter inhaltlichen Gesichtspunkten untersuchen. Aber natürlich gibt es unter Linguisten verschiedener Ausrichtung und verschiedener Interessen Streitigkeiten darüber, welche Betrachtung wohl die zentrale, wichtigste, interessanteste … ist. Führen wir uns also vor Augen, welche ›Abteilungen‹ geläufigerweise unterschieden werden.
›Harte‹ und ›weiche‹ Linguistik Systemlinguistik
Es gibt zunächst eine grobe Zweiteilung, zu deren Gegenüberstellung man im Deutschen sogar die alternativen Ausdrücke für die Gesamtdisziplin, Linguistik und Sprachwissenschaft, inhaltlich zu einem Gegensatz aufladen kann und die sich in erster Linie auf den Gegensatz verschiedener Schulen gründet. Zur Linguistik in diesem etwas kämpferisch verwendeten engen Sinn gehören dann nur die Teile, die man auch als ›harte‹ Linguistik bezeichnet. Diese beschränkt sich auf die Untersuchung des Sprachsystems, speziell der formalen Seite, legt größten Wert auf die Formalisierbarkeit ihrer Aussagen und frappiert den Laien dadurch, dass sie ›aussieht wie Mathematik‹. Dem steht gegenüber die so genannte ›weiche‹ Linguistik (bzw. Sprachwissenschaft im spezialisierten Sinn), für die Aspekte der Bedeutung, des Sprachgebrauchs, anwendungsbezogene und interdisziplinäre Fragestellungen (Sprache und Gesellschaft, Sprache und Kultur, Sprache und Medien, literarische Sprache usw.) zentral sind. Die harte Linguistik entspricht also grosso modo dem, was wir früher als Systemlinguistik kennengelernt haben und genießt in Fachkreisen das höhere Prestige – wohl auch deswegen, weil sie weiter entfernt ist vom Alltagsdenken und daher als wissenschaftlicher erscheint. Sie hat aber dieses Ansehen vor allem, weil sie sich herleitet aus den Bemühungen um die Etablierung der Linguistik als autonomer Disziplin, die bevorzugt Fragen auswählt, für die sie und nur sie zuständig ist. Das sind natürlich Fragen, die das Sprachsystem betreffen. Wenn wir uns von dieser tendenziell polemischen Einschränkung der Linguistik auf die ›harte‹ Variante fernhalten – und das ist im Zeitalter der Inter- und Transdisziplinarität wohl angemessen – können wir die auf das Sprachsystem bezogenen Teilbereiche als sprachwissenschaftliche Kerndisziplinen bezeichnen und die anderen als solche mit interdisziplinärer Komponente auffassen.
Was braucht man, um sich eine fremde Sprache anzueignen?
Als Kerndisziplinen kann man die Untersuchung des Sprachsystems deswegen auffassen, weil die Beschreibung der entsprechenden Komponenten genau das erfasst, was zu jemandes Fähigkeiten gehört, von dem man sagt, er beherrsche diese Sprache. Was also kann man, wenn man eine Einzelsprache beherrscht, bzw. was muss man sich aneignen, wenn man eine Einzelsprache lernen will? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, versetzen wir uns in die Situation eines erwachsenen Menschen, der seine Muttersprache beherrscht und eine Fremdsprache |41◄ ►42| lernen will. Setzen wir weiter voraus, dass er zunächst nur
Ein Wörterbuch
Grundkenntnisse in dieser Sprache erwerben will, d.h. einfache Texte verstehen und produzieren können möchte. Zu diesem Zweck muss er sich einige tausend Einheiten aneignen, wie sie in einem Wörterbuch der betreffenden Sprache verzeichnet sind – er tut also gut daran, sich ein solches Wörterbuch zu beschaffen; er muss wissen bzw. lernen, wie man die Einheiten ausspricht und was sie bedeuten.
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