Wenn Sie sich intensiver mit der Frage nach dem Gegenstand der Sprachwissenschaft befassen möchten, lesen Sie VATER 1999: 11–27 und ebenfalls MÜLLER 2009: 33ff. oder SCHLOBINSKI 2014: 15ff.
Für eine sprachhistorische Vertiefung empfehle ich Ihnen den sehr gut verständlichen und hervorragend illustrierten dtv-Atlas Deutsche Sprache (KÖNIG 2011). Lesenswert ist zudem die Deutsche Sprachgeschichte von GERHART WOLFF. Zudem lohnt jederzeit ein Blick in die umfangreiche (3 Bände) Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart von PETER VON POLENZ. Interaktiv und damit zum Lernen gut gestaltet ist die CD-ROM Interaktive Einführung in die Historische Linguistik von DONHAUSER 2007. Einen guten Überblick über die germanisch-deutsche Sprachgeschichte bekommt man bei SCHWEIKLE 2002.
Wenn Sie sich näher mit der Etymologie von deutschen Wörtern beschäftigen möchten, sollten Sie über die Anschaffung des Etymologischen Wörterbuches der deutschen Sprache von KLUGE nachdenken.
Eine sehr detailreiche Überblicksdarstellung über die Entwicklung der deutschen Sprache liegt seit 2014 mit UTZ MAAS’ Buch Was ist Deutsch? vor. Ein Blick in dieses Buch ist äußerst lohnenswert.
2 Was ist das Wesen der Sprache?
Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, und thu’ nicht mehr in Worten kramen.
JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749–1832)
[bad img format]Ziele und Warm-up
In diesem Kapitel wollen wir an unsere Überlegungen aus dem Eingangskapitel anknüpfen und uns noch ein wenig intensiver mit dem Wesen von Sprache befassen. Wir müssen zu einem angemessenen Sprachbegriff finden, damit wir verstehen können, auf welche Weise, also durch welche Prozesse und auf der Basis welcher Grundprinzipien, Sprachwandel abläuft.
Dazu ist es wichtig, dass wir uns mit SprachauffassungenSprachauffassung vertraut machen, die in der Forschung bekannt und akzeptiert sind. Sie werden sehen: Nicht jede Auffassung davon, was Sprache ist, taugt dazu, sprachliche Veränderungen zu erklären. Sie werden auch feststellen: Eine Sprachauffassung, die den Sprecher und dessen kommunikative Ziele mit in den Blick nimmt, kann auch sprachliche Veränderungen plausibel begründen. Deshalb sind die nachfolgenden Überlegungen nicht rein wissenschaftstheoretischer Natur, sondern sie helfen uns, Sprachwandel im Kern zu verstehen. Denn: Wenn wir wissen, wie etwas beschaffen ist, können wir auch leichter verstehen oder schlussfolgern, wie etwas funktioniert. Wie also ist die Sprache beschaffen und was ist sie? Darum geht es in diesem Kapitel.
Um in die Thematik einzusteigen, bitte ich Sie, die folgenden Fragen intuitiv zu beantworten:
Was unterscheidet Ihre Muttersprache von anderen Sprachen, die Sie kennen?
Haben Sie Haustiere? Können Ihre Tiere mit Ihnen sprechen?
Wie unterscheidet sich die Sprache der Menschen von den Lauten der Tiere?
Was ist die Funktion der menschlichen Sprache? Wozu verwenden Sie Ihre Sprache im Alltag?
Woher wissen Sie, was sprachlich richtiges Handeln ist? Wer schreibt uns vor, wie wir zu sprechen und zu schreiben haben?
Kann man auch ganz ohne Sprache kommunizieren? Finden Sie Beispiele.
2.1 Welche SprachauffassungenSprachauffassung gibt es?
Sprache ist grob gesagt ein „auf kognitiven Prozessen basierendes, gesellschaftlich bedingtes“ (BUSSMANN 2002: 616) Werkzeug, damit wir uns mit anderen Menschen, die dieselbe Sprache wie wir sprechen, verständigen können. Wie alle Werkzeuge unterliegt auch dieses im Laufe der Zeit historischen Entwicklungen. Es ist nie vollkommen und kann und wird sich im Laufe der Zeit verändern. Man geht davon aus, dass die Fähigkeit, Sprache in diesem Sinne als Werkzeug nutzen zu können, genetisch vorgegeben ist und auf neurophysiologischen Prozessen beruht. Sprache ist aber nicht einfach nur eine biologische Anlage, die wir Menschen haben und nutzen, sie ist zudem eine artspezifische Ausdrucksform, „die sich durch KreativitätKreativität, die Fähigkeit zu begrifflicher Abstraktion und die Fähigkeit zu metasprachlicher Reflexion von anderen Kommunikationssystemen unterscheidet“ (BUSSMANN 2002: 616). Mit anderen Worten: Sprache ermöglicht es uns, unsere Gedanken mit anderen Menschen zu teilen und anderen unsere Perspektive auf die außersprachliche Welt zu vermitteln. Zudem können wir über (die eigene oder fremde) Sprache sprechen, unser eigenes Sprechen kritisch beleuchten und auch das sprachliche Verhalten anderer bewerten (metasprachliche Reflexion).
Mit dem eigentlichen Wesen der Sprache ist es aber nun so eine Sache, denn dass sie ein Mitteilungsmittel sei und kulturell determiniert wird, ist keine historische, sondern eine eher moderne Sichtweise. Seit der Antike fragen sich Philosophen, was Sprache eigentlich für ein Ding sei, ob wir sie uns angeeignet hätten oder ob sie uns von Gott gegeben sei, wie Sprache unser Denken beeinflusse und vieles andere mehr. Aus diesen philosophischen Überlegungen haben sich im 19. Jahrhundert die Sprachwissenschaften herausgebildet. Gegenwärtig ist die Sprache ein Gegenstand, der neben Linguisten aber auch Biologen, Neurowissenschaftler, Soziologen und Wissenschaftler noch weiterer Disziplinen umtreibt.
Wenn man die auf den ersten Blick so simpel klingenden Fragen formuliert, was Sprache sei und wozu wir sie hätten, dann wird man unterschiedliche Antworten bekommen, je nachdem, wen man fragt. Biologen oder evolutionäre Psychologen würden das Phänomen wohl am ehesten mit den angeborenen und im Zuge der EvolutionEvolution entwickelten kognitiven und anatomisch-physiologischen Anlagen erklären wollen. Soziologen hingegen würden Sprache im Kontext zu gesellschaftlichen Strukturen und Systemen verorten. Und auch Sprachwissenschaftler sind sich nicht immer einig, was denn der Gegenstand ihres Faches eigentlich ist. Für das 20. Jahrhundert lassen sich etwa 30 SprachauffassungenSprachauffassung finden, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden (vgl. ECKARD 2008). Diese Vielzahl an unterschiedlichen Herangehens- und Betrachtungsweisen liegt darin begründet, dass sie sich selbst durch Anlehnungen an zeitgemäße Theoriekonzepte anderer Disziplinen, wie etwa der Evolutionstheorie, legitimierten. ZEIGE (2001) weist darauf hin, dass es sich um Versuche handelte, „die nicht gegenständliche und darum schwer zu fassende Natur der Sprache in Anlehnung an andere Wissenschaften durch gegenständliche Analogien darzustellen“ (ZEIGE 2008: X).
In diesem Zusammenhang sei auf drei Phasen in der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft hingewiesen, die richtungsweisend für heutige moderne Sprachbetrachtungen gewesen sind. Zum einen ist dies die Hinwendung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Linguistik im Besonderen zu den Methoden der objektiven und empirisch erfolgreichen Naturwissenschaften. Ebenso wie es in den Naturwissenschaften möglich war, Phänomene exakt zu bestimmen, wollte man nun auch sprachliche Entitäten präzise und mithilfe von realem Datenmaterial analysieren können. Sprache war in der Betrachtung zuvor eher etwas Transzendentes gewesen; es ging weniger um konkrete sprachliche Phänomene als beispielsweise um den Zusammenhang von Sprache und WirklichkeitWirklichkeit.
Damit nun exakte Analysen möglich werden konnten, musste man von einer rein epistemischenSprachbetrachtung zu einer materialistischenBetrachtungsweise übergehen. Diese Entwicklung war Fluch und Segen zugleich. Ihr ist es nämlich zuzuschreiben, dass organistische MetaphernMetapher bis heute in der Sprachbetrachtung zu finden sind. So spricht man noch heute vom Sprach wachstum , vom Aussterben bestimmter Dialekte oder vom Verfall einer Sprache. Dass es lebendige und tote Sprachen geben soll, entstammt diesem Denken. Sprache wird in dieser Sichtweise als ein „Ding mit ihm innewohnenden Lebenskräften“ (KELLER 2003: 25) eingestuft und dabei sowohl unangemessen verdinglicht als auch irreführend vitalisiert. Dass man zugleich begann, Sprache als Systemzu verstehen und einer medizinischen Sektion gleich die Einzelelemente genauer zu fokussieren, ist die positive Folge dieses Umdenkens, denn sie begünstigte die Erforschung sprachlicher Einzelphänomene.
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