kultureller Entfaltung und zugleich das wichtigste Element
nationaler, übrigens auch persönlicher, Identität.
Helmut Schmidt (1918–2015)
1 Was ist Sprache — und woher kommt sie?
Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiss nichts von seiner eigenen.
JOHANN WOLFGANG GOETHE (1749–1832)
[bad img format]Ziele und Warm-up
Der Begriff Sprachwandel begegnet uns nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch im Alltag (z.B. in den Medien). Besonders im Zusammenhang mit Stil und „gutem Ausdruck“ wird oft intensiv diskutiert, in welchem Zustand sich unsere Sprache befindet. Sprachwandel wird immer dann zum Thema, wenn Veränderungenauffällig werden. Solche Veränderungen werden gerne als Fehler oder zumindest als Abweichungen von der sprachlichen Norm interpretiert. Vor allem im Vergleich zu früheren Sprachzuständen werden diese Abweichungen als Wandel offensichtlich. Aber was ist das eigentlich, was sich da wandelt?
Ebenso, wie man nur verstehen kann, was ein Regenschirm oder eine Taschenuhr ist, wenn man weiß, was Regen , Schirm , Tasche und Uhr sind, kann man nur begreifen, was Sprachwandel bedeutet, wenn man weiß, was Sprache und Wandel eigentlich sind. Deshalb sehen wir uns in einem ersten Schritt den eigentlichen Gegenstand einmal genauer an, mit dem sich dieses Buch beschäftigt. Wir müssen uns zum Einstieg nämlich die Fragen stellen: Was ist Sprache? Und wozu haben wir sie eigentlich?
In diesem ersten Kapitel werden wir zunächst gemeinsam überlegen, welcher Gegenstandüberhaupt zu betrachten ist, wenn vom Wandel in der Sprache die Rede ist. Diese Überlegungen werden wir dann im zweiten Kapitel mit der Frage verknüpfen, wie Sprache und Wandel miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Wir nähern uns also über die nachfolgenden Definitionen der Grundbegriffe dem Phänomen des allgemeinen Sprachwandels, das in diesem ersten Teil der Einführung im Fokus stehen soll. Zudem dienen die Ausführungen dazu, das spezielle Phänomen des Bedeutungswandels im zweiten Teil dieses Buches besser verstehen zu können.
Dazu kreisen wir in diesem Kapitel zunächst den Begriff Sprache ein. Beantworten Sie bitte zum Einstieg die folgenden Fragen und machen Sie sich gerne auch stichwortartige Notizen dazu:
Was ist eine Sprache? Schlagen Sie die Definition in einem Lexikon nach!
Wie viele Verwendungsweisen des Wortes Sprache fallen Ihnen ein? Gibt es eigentlich so etwas wie die Sprache?
Können Sie denken, ohne zu sprechen?
Sprechen Sie eine Fremdsprache? Was ist ähnlich und was ist völlig anders, als Sie es aus Ihrer Muttersprache kennen?
1.1 Brauchen wir Sprache und wenn ja, wozu?
Was Sprache ist, lässt sich eigentlich ganz leicht beantworten: Sprache ist all das, was übrigbleibt, wenn man weiß, was Sprache alles nicht ist. Sprache müssen wir uns also nur einmal wegdenken, dann sehen wir, was noch da ist und dann wissen wir, was Sprache ist. Klingt das plausibel? Nun, dann überlegen Sie doch einmal, was alles keine Sprache ist. Denken Sie sich die Sprache dabei einfach weg aus der Welt.
Vielleicht denken Sie jetzt an einen Baum oder an ein Fahrrad oder an viel abstraktere Dinge wie Ihren letzten Urlaub. Sie haben recht: All das ist keine Sprache. Aber Sie haben einen Fehler gemacht: Sie haben sich die Sprache nicht weggedacht, als Sie darüber nachgedacht haben, was alles keine Sprache ist. Aber das ist nicht Ihr Fehler, denn ich habe Sie vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Sprache lässt sich nämlich nicht wegdenken, denn zum Denken selbst brauchen Sie die Sprache. Ohne Sprache wären Sie nämlich gar nicht in der Lage, an einen Baum zu denken. Zumindest wüssten Sie nicht, dass man ihn Baum nennt. Dass man Dinge überhaupt benennt, wüssten Sie nicht. Sie wüssten noch nicht einmal, was Sie überhaupt wüssten. Denn: Sprache und Denken hängen untrennbar miteinander zusammen.
Unsere Denkweise prägt die Art und Weise, wie wir sprechen. Komplexe Gedanken erfordern komplexe sprachliche Ausdrucksmittel. Der Einfluss wirkt aber auch in der Gegenrichtung: Bringt man Menschen etwa neue Farbwörter bei, verändert das ihre Fähigkeit, Farben voneinander zu unterscheiden. Lehrt man sie, auf eine neue Weise über Zeit zu sprechen, so beginnen sie, auch anders darüber zu denken.
Man kann sich der Frage auch anhand von Menschen nähern, die zwei Sprachen fließend sprechen. Nachweislich ändern bilinguale Personen ihre Weltsicht je nachdem, welche Sprache sie gerade verwenden. Ein anderes Beispiel: Für Europäer, die von links nach rechts zu schreiben gewohnt sind, liegt früher links von später ; Araber ordnen die Zeit hingegen von rechts nach links; für Aborigines liegt früher im Osten (vgl. BORODITSKY 2012).
Die Menschen sprechen in den vielen Ländern dieser Welt auf mannigfaltige Weise miteinander, und jede Sprache verlangt von ihren Benutzern ganz unterschiedliche kognitive Anstrengungen. Die kognitive Linguistin LERA BORODITSKY beschreibt das so:
Angenommen, ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich Anton Tschechows Drama „Onkel Wanja“ auf einer Bühne in der 42. Straße New Yorks gesehen habe. Auf Mian, das in Papua-Neuguinea gesprochen wird, würde das Verb aussagen, ob das Stück soeben, gestern oder vor langer Zeit gespielt wurde. Das Indonesische dagegen gibt damit nicht einmal preis, ob die Aufführung bereits stattfand oder noch bevorsteht. Auf Russisch enthüllt das Verb mein Geschlecht. Wenn ich Mandarin verwende, muss ich wissen, ob Onkel Wanja ein Bruder der Mutter oder des Vaters ist und ob er blutsverwandt oder angeheiratet ist, denn für jeden dieser Fälle gibt es einen speziellen Ausdruck. (BORODITSKY 2012)
Was wir also Denken nennen, ist offenbar in WirklichkeitWirklichkeit eine komplexe Verschaltung linguistischer und nichtlinguistischer Prozesse. Demnach dürfte es wohl kaum Denkprozesse geben, bei denen die Sprache keine Rolle spielt. Ein Grundzug menschlicher Intelligenz ist ihre Anpassungsfähigkeit – die Gabe, Konzepte über die Welt zu erfinden und so abzuändern, dass sie zu wechselnden Zielen und Umgebungen passen. Sie sehen also:
[bad img format]Alles Denken ist Sprache und nichts ist ohne Sprache denkbar. Denn: „Ohne Sprache gibt es kein Denken!“ (DÖRNER 1998: 41) Und ohne Denken gibt es keine Sprache.
Dieser Gedanke ist auch für das Thema unseres Buches interessant. Veränderte Sprachmuster führen demnach auch zu veränderten Denkmustern und umgekehrt. Diesen Umstand bezeichnet man als Linguistischen DeterminismusDeterminismus. Etwas salopp formuliert ließe sich sagen:
[bad img format]Sprachwandel führt zu Denkwandel und Denkwandel führt zu Sprachwandel.
Aber beantwortet das bereits die Frage, was Sprache genau ist? Wenn wir darauf Antworten bekommen wollen, müssen wir uns ansehen, wie die Sprache in den Wissenschaften betrachtet wird. Wir müssen schauen, welche Auffassungen von der Struktur und Funktion von Sprache vorherrschen. Und wir müssen überlegen, wie die Verschiedenheit der Sprachen zu erklären ist. Diese letzte Frage können wir am ehesten mit einem Blick in die Sprachgeschichte klären.
Exkurs: Die Sapir-Whorf-Hypothese — oder: Wie bestimmt die Sprache unser Denken (und Handeln)?
Wenn man davon ausgeht, dass unser Denken über sprachliche WissensbeständeWissensbeständesprachliche in unserem Gehirn organisiert ist und wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass wir uns mit unserem Denken in einem ständigen Austausch mit unserer Umwelt befinden, dann ist es plausibel anzunehmen, dass hier Wechselwirkungen bestehen zwischen dem Denken und der Sprache auf der einen und der Welt um uns herum auf der anderen Seite.
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