Die moderne Literatur ist in der modernen Welt zugleich zu Hause und fremd. Sie will nirgendwo anders sein als in ihr und kann doch in ihr nicht aufgehen. Insofern hat sie denen, die Nietzsche „Bildungsphilister“ nennt, also denen, die sich gegenüber der Dynamik der Moderne in einer rückwärtsgewandten Bildungswelt verschanzen, ebensowenig zu bieten wie dem Widerpart des „Bildungsphilisters“, dem „Modernisierungsphilister“, dem die Teilhabe an der Modernisierung immer schon verbürgt, unterwegs zur besten aller Welten zu sein, und der deshalb um jeden Preis modern sein will. Mit beiden gleichermaßen steht die moderne Literatur auf Kriegsfuß.
Und wie sollte es anders sein, da sich die Literatur der modernen Welt mit Mitteln der Kunst nähert. Denn die Kunst wendet sich der Welt auf eine Weise zu, für die Alexander Gottlieb Baumgarten, der Vater der modernen Ästhetik, schon im 18. Jahrhundert den Begriff der ästhetischen Thaumaturgie gefunden hat. Sie gründet in einer Art Handwerk des Staunens (griechisch: thaumazein); nichts ist ihr selbstverständlich, alles wird ihr zum Gegenstand der Verwunderung, auch das und gerade das, worüber ihre jeweiligen Zeitgenossen als etwas Bekanntes und Vertrautes hinweggehen. Insofern fühlt sich die Literatur in der Welt, in der sie sich vorfindet, immer mehr oder weniger fremd, hat ihre Arbeit an der Darstellung von Welt immer etwas mit „Verfremdung“ zu tun, auch dort, wo sie sich nicht geradezu auf den Begriff der Verfremdung beruft, wie wir das etwa von Bertolt Brecht her kennen. Statt von Thaumaturgie und Verfremdung könnte man mit Robert Musil auch vom „Möglichkeitssinn“ der Literatur sprechen: was immer ihr an Wirklichkeit in den Blick [<<15] kommt, nimmt sie in dem Gedanken wahr, daß alles auch ganz anders sein könnte.
Zur Konzeption dieser Einführung
Das Bild der modernen Welt, das zugleich der Ausgangs- und der Zielpunkt dieser Einführung ist, soll mithin vor allem von der Literatur aus entwickelt werden, als einem kritischen Zeugen der Prozesse, in denen sich diese Welt herangebildet hat. So soll denn die Literatur hier so oft wie möglich selbst zu Wort kommen. Der Leser soll die erörterten Fragen von literarischen Texten aus kennenlernen, er soll sich dabei in die Formensprachen der Moderne einlesen und auf eigene Rechnung ein Bild von ihnen machen können. Das setzt der Systematik der Darstellung natürlich gewisse Grenzen. Die Entwicklung von Problemzusammenhängen wird immer wieder für das Vorstellen und Kommentieren von Textbeispielen zu unterbrechen sein, und da sich literarische Texte nur selten mit einem einzigen Problem befassen, da sie in der Regel eine Vielzahl von Themen gleichzeitig anschlagen, mit denen sie auf die unterschiedlichsten Problemfelder führen – die „Polythematik“ der literarischen Rede – wird sich das, was zu ihrer Erläuterung zu sagen ist, kaum einmal ganz in systematische Überlegungen einbinden lassen.
Daß der Leser so oft wie möglich der Literatur selbst begegnen soll, wird überdies weder für einen schulgerechten Abriß der literaturgeschichtlichen Entwicklung noch für einen Überblick über die einschlägige Forschung genug Raum lassen. Am Ende wird der Leser mithin manche der von der Wissenschaft besonders intensiv diskutierten Fragen, manchen prominenten Autor und etliche der inzwischen als klassisch geltenden Werke zu vermissen haben. Es steht freilich zu hoffen, daß er in eben dem Maße, in dem er sich an den ausgewählten Texten auf exemplarische Weise mit Grundlagen, Grundfragen und Grundformen der modernen Literatur bekanntmachen kann, auch mit den literarhistorischen Fragen, den Autoren und Werken besser zurechtkommen wird, die hier nicht eigens verhandelt werden.
Gottfried Benn: „1886“
So wollen wir uns denn auch für die erste Annäherung an die Moderne von einem literarischen Text an die Hand nehmen lassen. Um die Wende von 1944 zu 1945 schreibt Gottfried Benn (1886–1956)1 [<<16] ein Gedicht auf sein Geburtsjahr 1886, in dem vom Ende des Entwicklungsbogens aus, der oben skizziert worden ist, der Blick auf die Zeit gerichtet wird, in der alles begann. Es ist ein Blick, der aus dem Staunen darüber lebt, wie sehr sich die Welt in diesen sechs Jahrzehnten verändert hat, im Guten wie im Bösen. Und die Jahre 1944 und 1945 sind böse Jahre, vielleicht die bösesten, die die Moderne bis dahin gesehen hat. Die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und seines Weltkriegs läuft auf Hochtouren, die ganze Welt scheint in Trümmer zu sinken. Von hier aus stellen sich die Verhältnisse des Jahres 1886 als „gute alte Zeit“ dar, und seine Literatur als Ausdruck eines Bewußtseins von geradezu atemberaubender Harmlosigkeit. Unter der Oberfläche ist das Neue freilich schon da, jenes Neue, das eine ganz andere Literatur erfordern wird als die bis dahin gepflegte, und es drängt mit Macht ans Licht.
1.2 An der Schwelle zur Moderne – Gottfried Benn: „1886“
1886
Ostern am spätesten Termin,
an der Elbe blühte schon der Flieder,
dafür Anfang Dezember ein so unerhörter Schneefall,
dass der gesamte Bahnverkehr
in Nord- und Mitteldeutschland
für Wochen zum Erliegen kam.
Paul Heyse veröffentlicht eine einaktige Tragödie.
Es ist Hochzeitsabend, die junge Frau entdeckt,
dass ihr Mann einmal ihre Mutter geliebt hat,
alle längst tot, immerhin
von ihrer Tante, die Mutterstelle vertrat,
hat sie ein Morphiumfläschchen:
„störe das sanfte Mittel nicht“,
sie sinkt zurück, hascht nach seiner Hand,
Theodor (düster, aufschreiend):
„Lydia! Mein Weib! Nimm mich mit Dir“! –
Titel: „Zwischen Lipp’ und Kelchesrand.“ [<<17]
England erobert Mandelai,
eröffnet das weite Tal des Irawaday dem Welthandel;
Madagaskar kommt an Frankreich;
Russland vertreibt den Fürsten Alexander
aus Bulgarien.
Der Deutsche Radfahrbund
zählt 1500 Mitglieder.
Güssfeld besteigt zum ersten Mal
den Montblanc
über den Grand Mulet.
Die Barsois aus dem Perchinozwinger
im Gouvernement Tula,
die mit der besonders tiefbefahnten Brust,
die Wolfsjäger,
erscheinen auf der Berliner Hundeausstellung,
Asmodey erhält die Goldene Medaille.
Die Registertonne wird einheitlich
auf 2,8 cbm Raumgehalt festgesetzt;
Übergang des Raddampfers zum Schraubendampfer;
Rückgang der Holzschiffe;
über das chinesische Kauffahrteiwesen
ist statistisch nichts bekannt;
Norddeutscher Lloyd: 38 Schiffe, 63.000 t,
Hamburg-Amerika: 19 Schiffe, 34.200 t,
Hamburg-Süd: 9 Schiffe, 13.500 t.
Turgenjew in Baden-Baden
besucht täglich die Schwestern Viardot,
unvergessliche Abende,
sein Lieblingslied, das selten gehörte:
„wenn meine Grillen schwirren“
(Schubert),
oft lesen sie Scheffel’s Ekkehard. [<<18]
Es werden entdeckt:
der flügellose Vogel Kiwi-kiwi in Neuseeland,
der augenlose Molch in der Krainer Tropfsteinklamm,
ein blinder Fisch in der Mammuthhöhle von Kentucky.
Beobachtet werden:
Schwinden des Haarkleides (Wale, Delphine),
Weisslichwerden der Haut (Schnecken, Köcherfliegen),
Panzerrückbildung (Krebse, Insekten) –
Entwicklungsfragen,
Befruchtungsstudien,
Naturgeheimnis,
nachgestammelt.
Kampf gegen Fremdwörter,
Luna, Cephir, Chrysalide,
1088 Wörter aus dem Faust
sollen verdeutscht werden.
Agitation der Handlungsgehilfen
für Schliessung der Geschäfte an den Sonntagnachmittagen,
sozialdemokratische Stimmen
bei der Wahl in Berlin: 68 535.
Das Tiergartenviertel ist freisinnig,
Singer hält seine erste
Kandidatenrede.
13. Auflage von Brockhaus’
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