Andererseits sollte auch die längerfristige psychosoziale Perspektive, also Umstände, die zur Krise geführt haben, und vor allem die psychosoziale Entwicklung nach Überstehen der Krise, im Blick bleiben.
Hier möchte das vorliegende Buch ansetzen. Es thematisiert die – m. E. häufigsten und wichtigsten – Krisen- und Notfallsituationen, mit denen Sozialarbeiterinnen, Pädagogen und Psychologinnen im Laufe ihres Berufslebens mutmaßlich konfrontiert werden, beschreibt zielgerichtete, praxisorientierte Interventionen zur Überwindung der Gefährdungs- und Krisensituation und geht insbesondere auf psychosoziale Aspekte dieses Interventionsprozesses ein.
(Zum Sprachgebrauch: Wenn es um Personenkreise bzw. Berufsbezeichnungen geht, habe ich weibliche und männliche Formen nach dem Zufallsprinzip bunt durcheinander gebraucht und hoffe, dabei einigermaßen paritätisch vorgegangen zu sein.)
Eine kurze Zusammenfassung am Ende eines jeden Kapitels dient der schnellen Orientierung. Dabei greife ich neben klinischen Erfahrungen in (Sozial-)Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und meiner Tätigkeit als systemischer Familientherapeut vor allem die Erfahrungen meiner langjährigen Lehrtätigkeit als Professor für Medizinische Grundlagen der sozialen Arbeit und Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule NRW auf.
Vor allem viele, eindrückliche Begegnungen und Erlebnisse in der Begleitung von Studierenden in der Praxisphase ihres Studiums, in denen sie immer wieder mit Krisensituationen, mitunter auch mit Notfällen, konfrontiert waren, haben mich motiviert, mich vertiefend mit diesem Thema zu befassen und seit einigen Jahren zusätzlich vorbereitende und begleitende Seminare und Übungen zu psychosozialen Interventionen bei Krisen und Notfällen anzubieten. Erasmus-Seminare zu dieser Thematik in der Türkei und in Polen sowie Seminare im Rahmen einer „summer school“ für geflohene Studierende haben mir zudem die Notwendigkeit aufgezeigt, psychosoziale Krisen und Notfälle auch in einem etwas weiteren und die zunehmende Globalisierung berücksichtigenden Rahmen zu sehen.
Ich habe viel von den Studierenden gelernt und bin sehr dankbar für ihre Offenheit, ihr Engagement und ihre beeindruckende Bereitschaft, bereits in jungen Jahren Verantwortung zu übernehmen.
Besonders möchte ich mich bei Frau Anja Middendorf für ihre wertvollen Hinweise und ihre Hilfe beim Erstellen des Textes bedanken.
Frau Ulrike Landersdorfer, Lektorin beim Ernst Reinhardt Verlag, möchte ich – wieder einmal! – für ihre wohlwollende Unterstützung und die Ermutigung zu diesem Buch danken.
Frau Pia Horsthemke und Frau Valerie Titz danke ich für ihre Hilfe bei den Recherchen für die Seminare, die diesem Buch zugrunde liegen.
Ebenso gilt mein Dank meinen Kollegen und Kolleginnen, insbesondere Peter Berker, die mir in zahlreichen, wohlwollend-kritischen Gesprächen wichtige Hinweise und Anregungen gaben. Und schließlich möchte ich Joachim Gardemann danken, dessen persönlicher Einsatz in humanitären Notlagen mich ebenso beeindruckt wie unsere Gespräche.
Münster, im August 2017
Thomas Hülshoff
1 Grundlagen
1.1 Notfälle und Krisen
1.1.1 Einführung
Dieses Buch wendet sich an Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Pädagogen und Pädagoginnen sowie Psychologen und Psychologinnen – also Menschen, die ihre berufliche Aufgabe darin sehen, Menschen zu begegnen, sie zu begleiten, zu fördern und zu unterstützen. Dabei haben sie, je nach Profession, unterschiedliche Aufgaben und Ziele und bedienen sich auch unterschiedlicher Konzepte und Methoden. Und wenn – von speziellen Arbeitsfeldern, z. B. in Krisenzentren, einmal abgesehen – Notfallversorgung und Krisenintervention auch nicht den Hauptteil ihrer professionellen Tätigkeit ausmachen, so kommt es doch gelegentlich, manchmal auch häufiger, zu Situationen, in denen sie mit akuten Krisen ihrer Klienten oder sogar akuten Notfällen konfrontiert sind. Diese erfordern in der Regel eine schnelle Übersicht über die Gefahrenlage und die Gesamtsituation sowie zielgerichtete, schnelle Entscheidungen. Häufig erfordert eine Krisensituation auch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dabei obliegen Sozialarbeitern und Pädagogen meist nicht akute Notfallmaßnahmen im engeren Sinne. Vielmehr geht es oft darum, eine Notfallsituation als solche zu erkennen, erste – mitunter lebensrettende – oder zumindest deeskalierende Schritte einzuleiten, gezielt adäquate Hilfe zu organisieren und daran anknüpfende Krisenerfahrungen wiederaufzunehmen und nachhaltige Hilfe anzubieten.
Von der Notfallversorgung zur Krisenhilfe
Aber wenn auch in der akuten, mitunter lebensgefährlichen Phase eines erfolgten Suizidversuchs, eines heftigen psychosebedingten Erregungszustandes oder einer Drogenintoxikation medizinische Hilfe im Vordergrund stehen mag – im Vorfeld haben Angehörige pädagogischer und psychosozialer Berufe die Aufgabe, Gefahren abzuwehren und schnellstmöglich Hilfe medizinischer Art zu organisieren. Wenn keine akute, lebensbedrohliche Gefährdung mehr besteht, gilt es, sehr schnell wieder pädagogische und psychosoziale Gegebenhei-ten zu berücksichtigen und auch auf dieser Ebene den Betroffenen zu helfen, die Krisensituation zu überwinden.
Drogenintoxikation
Hierzu ein Beispiel: Eine Heroinintoxikation sollte der Streetworker als solche erkennen (zunehmende Bewusstseinstrübung, stecknadelkopfgroße Pupillen etc.), sich der Gefahr einer tödlichen Atemlähmung bewusst sein, ggf. Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführen und schnellstmögliche notfallmedizinische Hilfe holen. In dieser Phase ist die weitere Notfallhilfe – die Entgiftung – also wesentlich eine medizinische Aufgabe. Aber nicht nur: Spätestens nach der akuten lebensbedrohlichen Phase stellt sich bereits in der Klinik die Frage danach, wie es zu dieser Situation kam, ob der Betroffene etwas an seiner Situation ändern will und kann, und ob und wie er weitere Vergiftungen verhindern will usw. Hilfestellungen bei solchen Entscheidungen erfordern spezielles theoretisches Wissen und praktische Kompetenzen, je nach Situation und Vorgeschichte auch sozialer, pädagogischer oder psychologischer Art.
Methodisches Vorgehen
Auch sehr konkrete methodische Interventionen (Krisenintervention, Motivational Interviewing, Psychoedukation, Empowerment) können nötig und hilfreich sein.
Qualitativer Entzug
Bei der Entzugsbehandlung beispielsweise hat es sich gezeigt, dass ein qualitativer Entzug, der solche Fragestellungen aufgreift, ein bio-psychosoziales Krisenbild berücksichtigt und auf interdisziplinäre Zusammenarbeit zurückgreifen kann, einer rein biologisch-medizinischen Behandlung, was Nachhaltigkeit und Rückfallprophylaxe angeht, um ein Vielfaches überlegen ist. Auch im weiteren Verlauf, beispielsweise in der aufsuchenden Sozialarbeit, in pädagogischen Fördersituationen oder in weiterführender Psychotherapie, mag es sinnvoll sein, gelegentlich auf das damalige Krisengeschehen bzw. den Notfall einzugehen.
1.1.2 Was ist eine Krise?
Immer wieder werden wir im Laufe unseres Lebens vor neue und unbekannte Herausforderungen gestellt, mit besonderen Belastungen konfrontiert oder geraten in Situationen, die eine Veränderung bedeuten oder erfordern. Verstehen wir unter einer Krise die Verunsicherung und Ungewissheit, die mit solchen Herausforderungen einhergeht, dann gehören Krisen selbstverständlich zu unserem Leben.
Krisen gehören zum Leben
Auch die Erfahrung, dass bisherige Lösungsmuster nicht mehr weiterhelfen, man sich zutiefst verunsichert fühlt, zunächst keinen Ausweg aus der Situation sieht, körperliche und seelische Anspannung wahrnimmt und sich mitunter überfordert und ängstlich fühlt, ist eine normale, uns nur allzu gut bekannte Lebenserfahrung. Wie wir gleich noch sehen werden, gelingt es uns häufig, aus eigenen Kräften oder mithilfe unseres sozialen Umfeldes, beispielsweise der Familie, eine solche Krise zu meistern, aus dieser Herausforderung gestärkt hervorzugehen und ein neues Niveau – was Lebenserfahrung und Lösungsstrategien angeht – zu erreichen. Andererseits können die Herausforderungen so gewaltig und die Schwierigkeiten so überfordernd sein, dass eine Krise auch die Gefahr des Scheiterns beinhaltet – zum einen können fehlgeleitete „Selbstheilungsversuche“ oder dysfunktionale Lösungsstrategien in eine lebensbedrohliche Gefährdung münden – wie das beispielsweise bei Suizidalität, selbstverletzendem Verhalten oder Drogenmissbrauch der Fall sein kann. Zum anderen können chronisch überfordernde Krisensituationen auch zu körperlichen oder schweren seelischen Erkrankungen, beispielsweise Depressionen, führen. Was also macht eine Krise aus?
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