Alle Abhängigkeiten, das gilt auch für Übergewicht und Adipositas, können sich zu schweren Krankheiten ausweiten, die auch nicht hinter dem Werkstor und vor keiner Hierarchieebene haltmachen. Manager sind als Führungskräfte bei der Erkennung und Hilfestellung gefordert, sie tragen Verantwortung für das Unternehmen, für ihre Mitarbeiter und nicht zuletzt für sich selbst. Im Folgenden werden einige dieser Abweichungen vom menschlichen Normverhalten behandelt, die einem Unternehmen beträchtlichen Schaden zufügen können, wenn sie nicht aufgedeckt und neutralisiert werden: Die Abhängigkeit von Rauschmitteln (Sucht), die psychische Niedergeschlagenheit in Form einer Depression oder des Burn-out sowie die narzisstische Persönlichkeitsstörung als Leitneurose des 21. Jahrhunderts, die sich zu einer pathologischen Form auswachsen kann. In vielen Fällen spielt eine bestimmte Region im Gehirn eine tragende Rolle, die zuerst betrachtet werden soll.
3.3.1 Das Belohnungssystem
Das Belohnungssystem des Menschen ist das Eingangsportal für jede Art von Zufriedenheit, aber auch für jede Art von Sucht. Es besteht aus mehreren miteinander verketteten Zentren an der Unterseite des Großhirns. Kommen dort sensorische oder optische Reize aus den verschiedenen Bereichen des Körpers an, die sich im Zuge der Evolution für den Menschen als nützlich herausgestellt haben, wird der Botenstoff Dopaminfreigesetzt und in der vorderen Großhirnrinde verteilt. Dabei entsteht ein Gefühl von Lust und Genuss. Was für das Überleben des Steinzeitmenschen hilfreich war, wurde durch „gute Gefühle“ belohnt, so war er stets motiviert, sich immer wieder um Essen, Trinken oder die Befriedigung seiner Sexualität zu bemühen.
Merksatz
Die Aktivierung des Belohnungssystems ist eine Komponente normalen menschlichen Verhaltens, die auch das Leben in einer Gemeinschaft erleichtert und mit Glücksgefühlen verbindet. Individuelles Glück und Nützlichkeit für die Gemeinschaft stehen im Zusammenhang.
Zur psychischen Stabilität eines Menschen sind „gute Gefühle“ zwingende Voraussetzung. Das Streben nach derartigen Glücksgefühlen ist deshalb etwas zutiefst Menschliches. Praktisch alles, was auf das Belohnungssystem wirkt, hat aber Suchtpotenzial und kann zu zwanghafter Jagd danach führen.
Die Psychologie kennt eine Unmenge von Aktivitäten, auf die das Belohnungssystem anspricht. Das Spektrum seiner Begierde reicht von einer Befriedigung durch intensive Arbeit, ein anregendes Gespräch, ausdauerndes Laufen, gutes Essen und natürlich durch Sexualerlebnisse. Es reagiert auf die Erregung bei Extremsportarten, beim Genuss von Nikotin, beim Lesen faszinierender Texte, bei Computerspielen und selbstverständlich spricht es auf all jene Mittel an, die unter dem Begriff Drogekonsumiert werden. Wer sich auf diese harten Suchtmittel einlässt, hat kaum eine Chance, ihnen zu entgehen. Ob es bei den zuvor genannten Mitteln zur Sucht kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Intensiv diskutiert wird eine genetische Komponente, die mit der Umwelt in noch nicht richtig verstandener Wechselwirkung steht. Sicher spielt auch das soziale Umfeld eine entscheidende Rolle (Gassen 2008).
Wird das Belohnungssystem in einem ausgeglichenen, zufriedenen Leben vielfältig angesprochen, verliert ein einzelner Suchtfaktor seine Bedeutung. Verkümmern die sozialen Momente, egal aus welchem Grund, reduziert sich menschliches Handeln irgendwann nur noch auf ein einziges Thema, das den Betroffenen zu beherrschen beginnt. Dann dreht sich der Tagesablauf allein um die Beschaffung von Drogen wie Heroin oder Alkohol, um die Arbeit bis zum Anschlag oder das tägliche Training bis zur Erschöpfung. Eine Überraschung war in den letzten Jahren die traurige Erkenntnis, dass sogar Essen das Stadium einer Sucht erreichen kann.
Merksatz
Sucht bedeutet letztendlich die Reduktion des sozialen Wesens Mensch auf ein einziges Bedürfnis, dem alles andere untergeordnet wird.
Selbst Motivation ist letztendlich eine Reaktion auf „Glücksgefühle“, die durch ein spezifisches Handeln erzeugt werden können: „Ich mache etwas gerne, weil dadurch die Nervenzellen meines Belohnungszentrums Dopamin freisetzen und mir ein gutes Gefühl vermitteln“. Erfährt ein Kind nur Gewalt und Aggressivität, ist die Gefahr groß, dass das Belohnungssystem des Erwachsenen darauf anspricht und er „mit Lust töten kann“. Auch stressinduzierte Hormone bewirken eine Ausschüttung von Dopamin und sind in der Lage, ein positives Gefühl zu erzeugen. So bekommt sogar Stress Suchtpotenzial.
Neuere Erkenntnisse der Neurowissenschaften belegen, dass das Belohnungssystem auch beim Einkauf aktiviert werden kann. Der Blick auf ein Schnäppchen oder ein besonders attraktiver Preisnachlass zeigt in bildgebenden Scan-Verfahren an derselben Stelle Hirnaktivitäten, die bei sexueller Betätigung oder beim Rauchen aktiv sind. Ein Rabattschild scheint einen Reiz auszuüben, der uns nützlich ist und die Ratio beeinträchtigt. Der vielleicht immer noch überhöhte Endpreis wird in den Hintergrund gedrängt. Marketing und Verkauf machen sich diese Erkenntnis intensiv zunutze.
Im Management besteht aufgrund der permanenten hohen Belastung eine große Suchtgefahr durch alles, was das Belohnungssystem anspricht. Soziale Abfederung und breit gefächerte Interessen sind ein wirksames Mittel gegen die Reduktion des Lebens auf die Arbeit allein.
3.3.2 Alkohol als gesellschaftlich weitgehend toleriertes Suchtmittel
Ethanol wird in Wein, Bier oder Spirituosen von der Hefe als Gärungsprodukt aus Zucker gebildet. Die Affinität zu alkoholischen Getränkenist kein menschlich-neuzeitliches Phänomen. Viele Tiere lassen für Alkohol alles stehen und liegen. Den finden sie in angegorenen Früchten oder Beeren, die in ihrem Magen oft munter weiter gären. Die Suchtkarriere flugunfähiger Vögel, randalierender Elche oder streitsüchtiger Paviane in den Weinbergen Südafrikas mag aus Versehen begonnen haben. Aber irgendwann kommt Vorsatz hinzu und die Tiere lernen teilweise schnell. Stare, Amseln oder Wacholderdrosseln bedienen sich hemmungslos und ohne einen Schaden zu erleiden an spätherbstlichen Weißdorn- und Rosenfrüchten, die einen ähnlichen Alkoholgehalt haben wie ein Pils. Hätte ein Star das Gewicht eines Menschen, könnte sein Enzymsystem alle acht Minuten eine Flasche Wein verarbeiten und würde ihn so vor Trunkenheit bewahren (Zittlau 2012). Sogar in unserer engeren Primatenverwandtschaft gibt es einen Vertreter, der seine Energie seit über 30 Millionen Jahren hauptsächlich von einem alkoholischen Getränk bezieht. Das nur 50 Gramm schwere Malaysische Federschwanz-Spitzhörnchen ernährt sich täglich von Palmnektar, der unter tropischen Bedingungen rasch in Gärung gerät. Auch sein Enzymsystem ist perfekt auf Alkoholabbau spezialisiert, die Evolution hat ihm eine bemerkenswerte Alkoholresistenz beschert (Wiens 2008, Findeklee 2008).
Es ist davon auszugehen, dass im Laufe von 2,4 Millionen Jahren menschlicher Entwicklung auch unsere Vorfahren mit Alkohol in Berührung gekommen sind und Gefallen an vergorenen Früchten gefunden haben. Mit seinem Satz: „Die Dosis macht das Gift.“ hat der Arzt Paracelsus von Hohenheimam Ausgang des Mittelalters und als Wegbereiter neuzeitlicher Medizin ein Drama des menschlichen Geistes treffend beschrieben: Was uns angenehm ist, von dem will unser Belohnungssystem immer mehr (Gassen 2008). Jeder muss seine Dosis kennen und wissen, ab wann diese kritisch werden kann. Der Wendepunkt beim Genuss von alkoholischen Getränken ist bei jedem Menschen anders gelagert, die Verteilungskurve des gesundheitlich Unbedenklichen ist sehr breit. Den Punkt zu überschreiten, birgt ein großes Risiko. Alkohol macht nicht zwingend süchtig, sondern ist „nur“ ein fakultatives Suchtmittel und gilt daher im streng wissenschaftlichen Sinne nicht als Droge. Drogen führen obligatorisch, also fast unweigerlich, zur Sucht. Im Falle von Alkohol ist die Wahrscheinlichkeit, davon süchtig zu werden, in Abhängigkeit von der Disposition geringer, der Prozess zieht sich über einen längeren Zeitraum und verläuft in mehreren eskalierenden Stufen. Unter Stress wirkt Alkohol als negativer Verstärker, er erleichtert eine unangenehme Situation. In normalen Situationen wird die Stimmung positiv verstärkt.
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