Das menschliche Gehirn macht zwei Prozent des Körpergewichts aus, verbraucht aber 20 Prozent der Energie. Die muss ausschließlich in Form von Glukose geliefert werden, die im einfachsten Fall aus Kohlenhydraten stammt. Im Zuge einer bewusst kohlenhydratarmen Ernährung oder in einer Hungersituation können Gehirn und Muskeln Ketonkörper, wie 3-Hydroxy-Butyrat, aus der Leber zur Energiegewinnung verwenden. Das Gehirn ist dann in der Lage, mit nur noch wenigen Gramm Glukose am Tag auszukommen, die der Körper aus komplexen Kohlenhydraten von kleinen Mengen Gemüse und Früchten oder aus Proteinen gewinnen kann. Industriell hergestellter Zucker aus Zuckerrohr, Zuckerrüben oder Maisstärke steht erst seit etwa 200 Jahren zur Verfügung. Dieser Zucker wird dem Körper in direkt verwertbarer Form zur Verfügung gestellt, er wandert auf schnellstem Weg in das Blut und aktiviert die Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse. Dieses Hormon ist für den Transport in die Zellen erforderlich. Eine Störung in diesem Prozess führt zu Diabetes, einer Stoffwechselkrankheit, die weltweit epidemische Dimensionen angenommen hat. Zu große Mengen zuckersüßer Lebensmittel werden zu Recht für die Entstehung dieser Zivilisationskrankheit mitverantwortlich gemacht.
Tab. 3.1 Effizienz von Lebensmitteln in Abhängigkeit von ihrem Verarbeitungszustand
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Originär, roh energiearm |
Originär, erhitzt |
Raffiniert, erhitzt hohe Energiedichte |
Verdaulichkeit |
+ |
++ |
+++ |
Nettobrennwert |
niedrig |
mittel |
hoch |
Aufwand für Verdauung |
+++ |
++ |
+ |
Wirkungsgrad |
+ |
++ |
+++ |
Beispiele: |
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Mehl |
unverdaulich |
Vollkorn 70 % Aufnahme |
ausgemahlen, 100 % Aufnahme |
Fleisch |
unverdaulich |
Braten |
Brät |
Obst, Gemüse |
roh |
Püree |
Saft |
Kartoffeln/Reis |
unverdaulich |
gekocht |
Sirup |
Zuckerrohr |
unverdaulich |
gekocht |
Sirup |
Fast Food |
– – |
– – |
z. B. Hamburger |
Süßigkeiten |
– – |
– – |
z. B. Pralinen |
Tabelle 3.1 stellt den Wirkungsgrad von Lebensmitteln in Abhängigkeit ihres physikalischen Zustandes nebeneinander. Rohe Lebensmittel, soweit überhaupt vom Menschen zu verwerten, benötigen viel Aufwand für die Verdauung, ihre Energieausbeute ist vergleichsweise niedrig. Die Auf- und Zubereitung in der Küche erhöht die Verdaulichkeit dieser Lebensmittel beträchtlich, die Energieausbeute steigt. Noch höher wird der Wirkungsgrad bei vielen industriell behandelten Lebensmitteln. Die ersten Schritte der menschlichen Verdauung haben bereits in der Fabrik stattgefunden, die Inhaltsstoffe sind oft ohne weitere Arbeit des Körpers zur Direktaufnahme in die Blutbahn geeignet. Die als Fast Foodbezeichneten Schnellgerichte sind meist ballaststofffrei und quasi bereits „halb verdaut“. Die Rohkosternährung erfordert dagegen viel Verdauungsaufwand. Kritiker bemängeln daher nicht ganz unberechtigt, dass die industrielle Ernährung dem Menschen einen Hauptteil seiner Verdauungsarbeit abnimmt und ihn mit vorverdauten Produkten füttert. Die Herausforderung besteht also darin, die menschliche Ernährung so zu gestalten, dass die 47 essenziellen Nährstoffe immer ausreichend zur Verfügung stehen und der Energiebedarf entsprechend der spezifischen Lebenssituation befriedigt wird.
In vielen Ländern korreliert die Gewichtszunahme der Bevölkerung mit dem Auftreten von multinationalen Lebensmittelkonzernen und Fast-Food-Ketten. Sie helfen, die traditionelle Ernährung durch Convenience-Foodzu ersetzen. Dabei befriedigen sie letztlich nur die Bedürfnisse der Kunden – diese machen im Prinzip alles richtig. Vorlieben für kalorienreiche Lebensmittel sind genetisch festgelegt, denn sie verschafften einen Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil (Paul 2012). So ist der Mensch geprägt durch Süße und Fett, sie galten in der Savanne als lebensnotwendige Energiespender. Diese Energiebilanzist in vielen Ländern aus unterschiedlichen Gründen aus dem Gleichgewicht geraten. Gemessen am Energieverbrauch essen die Menschen im Allgemeinen zu süß, zu fett und zu viel. Es ist verständlich, dass die Lebensmittelwirtschaft dabei in einer Teilverantwortung gesehen wird, ist sie doch auch Nutznießer des überhöhten Konsums.
Die ständige Verfügbarkeit von Lebensmitteln bei ausreichend finanziellen Mitteln und ein gleichzeitig viel zu geringer Leistungszuwachs müssen im Zusammenhang gesehen werden. Das Körpergewicht eines Menschen ist ein Ausdruck seiner gesamten Lebenssituation, insbesondere die Bewegungsarmut verschärft die Sachlage. Paläoanthropologen errechneten aus dem Schweifgebiet heute noch existierender Jäger- und Sammler-Kulturen einen täglichen Fußmarsch des Steinzeitmenschen von 30 bis 40 Kilometern. Die Alpenüberquerung des Eismenschen Ötzi zu Fuß war zu dieser Zeit nichts Außergewöhnliches. Für die Zeit vor 150 Jahren, vor der Erfindung des Automobils, wird die täglich zu Fuß zurückgelegte Strecke noch mit über 20 Kilometer angegeben, vor 70 Jahren war sie bereits auf rund 10 Kilometer gesunken. Heute legen 80 Prozent der Bevölkerung am Tag weniger als einen Kilometer zu Fuß zurück. Mangelnde Bewegung äußert sich nicht nur in einem verringerten Leistungszuwachs, die geringere Durchblutung von meist im Ruhestadium befindlichen Organen schwächt zudem das Immunsystem. Die Ausschüttung von Glückshormonen in den Hirnzellen, hauptsächlich der Endorphine, unterbleibt. Dafür verbleiben Stresshormone, wie Adrenalin oder Cortisol, länger im Blut. Der menschliche Steinzeitkörper belohnt sich auch heutzutage noch für getane Arbeit und reagiert auf Dauer ungehalten bei Trägheit. Ernährung und Bewegung sind letztlich viel mehr als nur die bestimmenden Größen für das Körpergewicht. Sie wirken gleichermaßen auf die Psyche.
3.3 Sucht, Depression, Narzissmus –drei apokalyptische Reiter des Managements
Suchtmittel verursachen in Deutschland zunehmend gravierende gesundheitliche, soziale und volkswirtschaftliche Probleme. Etwa 16 Millionen Menschen rauchen, 1,3 Millionen sind vom Alkohol und 1,4 Millionen von Medikamenten abhängig. 600 000 Menschen in Deutschland weisen einen problematischen Cannabiskonsum auf, 200 000 konsumieren sonstige illegale Drogen und bis zu 600 000 gelten als glücksspielsüchtig. Aktuelle internationale Studien gehen von 1,6 bis 8,2 Prozent abhängigen Internetnutzern aus (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2011). Eine Studie der Techniker Krankenkasse (Techniker Krankenkasse 2011) stellte darüber hinaus sowohl bei jungen Erwerbstätigen als auch bei Studierenden in den letzten fünf Jahren eine zunehmende Verordnung von Antidepressiva fest. Bei beiden Gruppen stieg die Zahl um über 40 Prozent (2006–2012) an. Der Drogen- und Suchtbericht 2009 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2009) spricht von mindestens 73 000 Toten als Folge übermäßigen Alkoholkonsums in Deutschland (zum Vergleich: Tod durch illegale Drogen: 1 477 Fälle, Tod als Folge des Tabakrauchens: 110 000 Fälle). Man schätzt, dass etwa 250 000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren stark alkoholgefährdet oder -abhängig sind. Das Robert Koch-Institut errechnete 2004 den volkswirtschaftlichen Schaden durch Alkoholmissbrauch auf 20 Milliarden Euro. Dem stehen ca. 2,2 Milliarden Euro staatliche Einnahmen durch Alkoholsteuern sowie ca. 2,5 Milliarden Euro Mehrwertsteuer gegenüber. Die Alkoholindustrie in Deutschland setzt zwischen 15 und 17 Milliarden Euro um und beschäftigt rund 85 000 Menschen. In Europa stirbt einer von zehn Menschen vorzeitig an den Folgen seines Alkoholkonsums (Robert Koch-Institut 2012).
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