3.4 Störungen, die von Beginn an parallel zur ADHS vorliegen vs. Störungen, die sich im Laufe einer ADHS entwickeln können
Eine bedeutsame und praktisch (klinisch) relevante Differenzierung komorbider Störungen der ADHS ist der Zeitpunkt des Auftretens dieser Störungen. Es kann zwischen solchen Störungen unterschieden werden, die gleichzeitig mit der Primärdiagnose ADHS diagnostiziert werden oder die in Folge der Primärdiagnose ADHS entstehen.
Die oben berichteten und erläuterten komorbiden Störungen treten zumeist gleichzeitig mit der ADHS erstmals auf. Man kann also nicht davon ausgehen, dass die ADHS-Symptome bewirken, dass sich diese weiteren Störungen entwickeln. Daneben kann es jedoch auch dazu kommen, dass zunächst eine ADHS und im späteren Verlauf weitere Störungen auftreten. Dies spielt besonders bei der ADHS des Erwachsenenalters eine Rolle (→ Kapitel 10).
Erfolgt die ADHS-Diagnose beispielsweise nicht frühzeitig und wird die ADHS nicht behandelt, können Anpassungs- und Kompensationsprozesse an die ADHS zu einer Ausprägung weiterer Störungen führen.
Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung: Sind die weiteren Symptome im Sinne einer komorbiden Störung zu verstehen, dann ist eine separate Diagnostik und Behandlung dieser komorbiden Störung wichtig. Gehen die komorbiden Symptome jedoch mit der ADHS einher, so ist eine primäre Behandlung der ADHS wichtig und sollte im Fokus stehen. Wird hier die (primäre) ADHS behandelt, verschwinden in den meisten Fällen mit der Zeit auch die komorbid auftretenden Symptome.
3.5 Komorbide Störungen im Erwachsenenalter
Folgende komorbide Störungen können bei Erwachsenen mit ADHS auftreten:
Substanzmissbrauch oder Substanzabhängigkeit,
Persönlichkeitsstörungen (z. B. dissoziale, impulsive oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen),
Affektive Störungen (z. B. bipolare Störung),
Angststörungen,
Tic-Störungen,
Teilleistungsstörungen (z. B. Legasthenie, Dyskalkulie),
Schlafstörungen.
Tatsächlich ist bei Erwachsenen mit ADHS die Prävalenzrate für Alkohol- und Drogenmissbrauch drei- bis vierfach höher als im Vergleich zu Erwachsenen ohne ADHS. Auch dissoziale Persönlichkeitsstörungen treten vermehrt auf. Patienten mit komorbiden Störungen des Sozialverhaltens bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörungen haben ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Suchterkrankungen. Studien zur Prävalenz affektiver Störungen ergeben heterogene Ergebnisse (Krause / Krause 2005; Konrad / Günther 2007; Milberger et al. 1995). In Bezug auf das Auftreten von Angsterkrankungen scheint eine erhöhte Prävalenz zu bestehen. Weiterhin ist die subjektive Schlafqualität häufig vermindert (s. Exkurs zum Schlafverhalten bei Erwachsenen und bei Kindern mit ADHS → im Kapitel 10).
Exekutive Funktionen bei Erwachsenen mit ADHS und mit oder ohne komorbiden Störungen (Rohlf et al. 2012)
In einer eigenen Studie haben wir untersucht, ob exekutive Funktionsdefizite (→ Kapitel 8) von erwachsenen Patienten mit ADHS auf die ADHS oder auf komorbide Störungen zurückzuführen sind. Dazu haben wir folgende Gruppen verglichen: 18 Erwachsene mit ADHS-Mischtypus und weiteren komorbiden Störungen (ADHS+), 19 Erwachsene mit ADHS-Mischtypus ohne weitere komorbide Störungen (ADHS-) und 32 Erwachsene ohne ADHS. Die Ergebnisse zeigen signifikante Unterschiede zwischen Erwachsenen mit und ohne ADHS in den exekutiven Funktionen Shifting (d. h. Wechsel zwischen Aufgaben) und Arbeitsgedächtnis. Dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen ADHS+ und ADHS- gab, spricht dafür, dass die ADHS und nicht die jeweilige komorbide Störung für die Defizite in den exekutiven Funktionsaufgaben verantwortlich ist. Zudem entspricht die Verteilung der komorbiden Störungen in der Gruppe ADHS+ den zu erwartenden Komorbiditäten im Erwachsenenalter: Sechs Patienten litten unter Depressionen, vier Patienten unter Angststörungen, sieben Patienten zeigten Substanzmissbrauch (z. B. Alkoholabhängigkeit oder Cannabisabhängigkeit) und zehn Patienten hatten die Zusatzdiagnose Persönlichkeitsstörung (z. B. antisoziale, schizoide Persönlichkeitsstörung).
Die ADHS ist ein Störungsbild, welches häufig durch das Auftreten weiterer Störungen gekennzeichnet ist. Aktuelle Studien zeigen, dass bestimmte Profile exekutiver Funktionen typisch bzw. charakteristisch für die ADHS sind.
Freitag / Retz (2007): ADHS und komorbide Erkrankungen: Neurobiologische Grundlagen und diagnostisch-therapeutische Praxis bei Kindern und Erwachsenen.
Vertiefungsfragen
7. Warum sind komorbide Störungen bei der ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter problematisch?
8. Kann pauschal festgestellt werden, dass Kinder mit ADHS häufig komorbid an spezifischen Störungstypen leiden?
9. Welche verschiedenen Charakteristika komorbider Störungen sind bei Kindern einer klinischen Stichprobe oder einer Feldstichprobe zu erwarten?
4 Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen und von einer alterstypischen Entwicklung
Neben komorbiden Störungen, also Störungen, die tatsächlich zusätzlich zu einer ADHS vorliegen, muss die ADHS von anderen Störungen abgegrenzt werden, zu denen sie eine große Ähnlichkeit hat. Weiterhin muss bei einer Diagnose vor allem bei jüngeren Kindern immer bedacht werden, dass es sich statt um eine ADHS auch um eine alterstypische Entwicklung handeln kann. Zudem muss Aufmerksamkeit als eine Fähigkeit angesehen werden, die bei jedem Menschen hin und wieder eingeschränkt sein kann. Nur wenn diese Einschränkungen chronisch, über längere Zeiträume hinweg, konsistent in verschiedenen Lebensbereichen auftreten und dabei psychisches Leiden verursachen (→ Kapitel 2), ist eine ADHS-Diagnose gerechtfertigt.
4.1 Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen
4.1.1 Differentialdiagnosen im Kindesalter
Im Kindesalter muss die ADHS abgegrenzt werden von:
tiefgreifenden Entwicklungsstörungen,
Störungen des Sozialverhaltens, die sich in lang anhaltenden und ausgeprägten Formen der Dissozialität zeigen,
Anfallskrankheiten, also Epilepsien,
Читать дальше