4,8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben laut der KiGGS-Studie eine von einem Psychologen diagnostizierte ADHS (Huss et al. 2008; Schlack et al. 2007). Die Prävalenz beträgt 1,5 % im Vorschulalter, 5,3 % im Grundschulalter, 7,1 % bei den 11–13-Jährigen und 5,6 % bei den 14–17-Jährigen. Somit belegen die Daten einen starken Ansprung der diagnostizieren Fälle vom Vor- zum Grundschulalter. Mit dem Eintritt in die Grundschule wird die ADHS häufiger diagnostiziert. Aus diesem Grund ist also die ADHS eine Störung, welche Lehrern bekannt sein sollte: Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass sie im Laufe ihres Schulalltags auf Kinder mit ADHS treffen.
Sozioökonomischer Status
ADHS wird weiterhin laut der KiGGS-Studie häufiger bei Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status im Vergleich zu Familien mit einem mittleren oder hohen sozioökonomischen Status diagnostiziert. Es ist nicht geklärt, ob ADHS tatsächlich in Familien mit niedrigem soziökonomischen Status häufiger vorkommt oder nicht. Einerseits ist es bei einer stark erblichen Störung wie der ADHS wahrscheinlich, dass Väter und Mütter, die selbst unter ADHS-Symptomen leiden, Probleme in Schule, Ausbildung, Beruf und somit geringere Aufstiegschancen im Job hatten, als Väter und Mütter, die keine ADHS hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder ebenfalls ADHS haben, steigt und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der soziökonomische Status dieser Familien niedriger ist. Andererseits gibt es keine empirischen Studien, die belegen, dass ADHS mit einem bestimmten sozioökonomischen Status gekoppelt ist. Andererseits könnte man vermuten, dass positive Merkmale der ADHS (wie z. B. Kreativität), sofern diese zum Erscheinen gebracht werden, zu Erfolg führen könnten.
Migrationshintergrund
Die KiGGS-Studie zeigt auch, dass Familien mit Migrationshintergrund seltener über eine ADHS-Diagnose als Familien ohne Migrationshintergrund berichten. Jedoch gibt es mehr ADHS-Verdachtsfälle bei Familien mit als ohne Migrationshintergrund. Das bedeutet, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund häufiger bezüglich der ADHS-Symptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) auffällig werden (z. B. im Kindergarten und / oder der Schule), aber seltener Beratung, Diagnostik oder Interventionen in Anspruch nehmen. Lehrer sollten also Familien mit Migrationshintergrund genauer im Blick haben, um diese ggf. auf entsprechende Einrichtungen (z. B. Beratungsstellen, Beratungsstellen speziell für Familien mit bestimmten kulturellen Hintergründen) hinzuweisen.
Wohnort
Die KiGGS-Studie fand keine weiteren Unterschiede der Häufigkeit der ADHS-Diagnose zwischen den Wohnorten. Es werden also nicht häufiger ADHS-Diagnosen in Ost- oder in Westdeutschland ausgesprochen; ebensowenig macht es einen Unterschied für das Auftreten der ADHS, ob Kinder in kleinen oder großen Städten aufwachsen.
5.2 Vergleich der Prävalenz der ADHS in Deutschland und in anderen Ländern
„The worldwide prevalence of ADHD: Is it an American condition?“ – „Die weltweite Prävalenz von ADHS: Ist es eine amerikanische Störung?“ betiteln Faraone und Kollegen einen Artikel aus dem Jahr 2003. Für ihre Meta-Analyse haben sie in einer medizinisch-wissenschaftlichen Datenbank 50 Artikel identifiziert, die zwischen den Jahren 1982 und 2001 die Begriffe „ ADHD“, „ADD“, „HKD“, oder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung und „Prävalenz“ gekoppelt verwenden. 20 dieser Studien stammten aus den USA, 30 wurden außerhalb der USA durchgeführt. Eine genauere Durchsicht dieser Artikel ergab, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von ADHS bei amerikanischen und nicht-amerikanischen Kindern gleich hoch ist. ADHS ist also keine typisch amerikanische Störung.
Zudem zeigte die Auswertung, dass die Auftretensraten der ADHS am höchsten sind, wenn zur Diagnose DSM-IV- im Vergleich zu ICD-10-Kriterien angelegt werden. Dieser Unterschied rührt daher, dass die ICD strenge Vorgaben darüber macht, ob ein Kind Symptome in allen drei Dimensionen (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität), davon einige zu Hause als auch in der Schule zeigen muss. Die ICD schließt zudem Kinder mit komorbiden Störungen aus. Das DSM hingegen ist offener: Es ist möglich, Kinder mit ADHS zu diagnostizieren, die nur Auffälligkeiten in einem Bereich zeigen (z. B. nur Unaufmerksamkeit) und an weiteren Störungen leiden.
Auch in anderen, aktuellen Untersuchungen konnte bestätigt werden, dass ADHS kein Nebenprodukt der amerikanischen Kultur ist. In einer weiteren Metaanalyse, die durch Polanczyk und Rohde (2007) durchgeführt wurde, zeigte sich das folgende Bild: Die Auftretenswahrscheinlichkeit der ADHS in Nordamerika übersteigt mit 6,2 % nur knapp die Rate, die in europäischen Ländern gefunden wurde (4,6 %). Die höchsten Raten finden diese Autoren übrigens in Afrika (8,5 %) und Südamerika (11,8 %). Zusammenfassende Analysen einer ADHS-Skala, die in 21 Ländern verwendet wurde, zeigten, dass japanische und finnische Kinder die niedrigsten Werte, jamaikanische und thailändische Kinder die höchsten Werte erzielen und amerikanische Kinder im Mittelfeld liegen.
Methodische Unterschiede
Auch diese Analyse unterstreicht, dass die Auftretensunterschiede für ADHS in Nordamerika vs. Europa auf methodische Unterschiede zurückzuführen sind: Alle amerikanischen Forscher legten in ihren Studien die offeneren DSM-Kriterien an; die meisten europäischen Wissenschaftler jedoch die strengeren ICD-Kriterien. Die Autoren dieser Analyse führen die Abweichungen der ADHS-Prävalenz in verschiedenen Ländern zum Großteil auf diese methodischen Unterschiede zurück.
Letztlich werden jedoch Studien benötigt, welche die Prävalenz der ADHS direkt in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Nur wenige Studien tun dies; diese wenigen Ergebnisse sind zudem äußerst heterogen. Es gibt vielfältige Gründe für die Probleme bei der kulturvergleichenden Erfassung des Auftretens der ADHS:
1. Konfundierung: Häufig sind die Ergebnisse mit spezifischen Aspekten der jeweiligen Kultur, in welcher Untersuchungen durchgeführt wurden, konfundiert, d. h. vermischt. Z. B. wurde in einer Studie die Prävalenz der ADHS bei Kindern, die während der Atomkatastrophe in einem 30 km-Radius um Tschernobyl lebten, im Anschluss nach Kiew evakuiert wurden und nach 10 Jahren immer noch in Kiew lebten, mit der Prävalenz amerikanischer, gleichaltriger Kinder verglichen (Gadow et al. 2000). Diese Studie zeigte eine höhere Auftretensrate der ADHS bei den ukrainischen (19,8 %) im Vergleich zu den amerikanischen Kindern (9,7 %) – jedoch kann nicht geklärt werden, ob diese erhöhte Auftretensrate von Umwelteinflüssen, die nach der Atomkatastrophe eingetreten sind, oder durch die Tatsache, dass alle Kinder der ukrainischen Stichprobe nach Kiew umziehen mussten, verursacht worden ist. Das Ergebnis, dass ukrainische Kinder häufiger an ADHS leiden, ist also konfundiert bzw. vermischt mit den Faktoren, die in den Umwelt- und Lebensbedingungen der ukrainischen Kinder liegen und bei der amerikanischen Vergleichsgruppe nicht aufgetreten sind.
2. Methodenvielfalt: Immer häufiger wurde also in den letzten Jahren versucht, über Meta-Analysen die Prävalenz der ADHS im Ländervergleich zu charakterisieren. Problematisch ist jedoch, dass in den meisten Fällen in den unterschiedlichen Ländern auch unterschiedliche Diagnosemethoden eingesetzt werden. Somit haben wir wiederum mit dem Problem der Kultur-Konfundierung zu kämpfen, gleichzeitig offenbart sich hier noch eine weitere Schwierigkeit: Können wir tatsächlich über dasselbe Störungsbild sprechen, wenn wir verschiedene Methoden zur Erfassung und verschiedene Diagnosesysteme verwenden? Anders gefragt: Ist die in verschiedenen Ländern diagnostizierte ADHS tatsächlich auf dasselbe Störungsbild zurückzuführen? Weitere empirische Forschung der nächsten Jahre wird sicher einen genaueren Einblick in diese Problematik bringen.
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