3 Das serielle Buch im 19. Jahrhundert
Man hat von der „serial revolution“ im 19. Jahrhundert gesprochen und dabei nicht nur Periodika mit den verschiedensten Inhalten – ein Beispiel sind die jahrbuchähnlichen Zusammenstellungen wie Meyer’s Volksbibliothek für Länder-, Völker- und Naturkunde (1853–1856) –, sondern auch Reihenveröffentlichungen in selbständigen Teilen bezeichnet (Law/Patten 2009: 144).
Wenn wir „Buch“ als Produkt eines technischen Herstellungsprozesses definieren, wobei dem Träger Papier die zu übermittelnden Sprach- und Bildzeichen appliziert werden, als Buchform die Codexform voraussetzen (Rautenberg 2015: 65) und zugleich die Unesco-Definition mit dem Mindestumfang von 49 Seiten außer Betracht lassen, so spannt sich im 19. Jahrhundert die Produktbreite inhaltlich vom Roman bis zum Ratgeber und zum wissenschaftlichen Buch, formal vom Hardcover bis zur Broschur und zum Heft sowie adressatenspezifisch von Büchern für Erwachsene bis zur Kinder- und Jugendliteratur. Jede einzelne dieser Buchgattungen (zum Begriff siehe Rautenberg 2015: 75) lassen sich Bereitstellungsqualität, Organisiertheit, Funktionalität und Institutionalisiertheit zuschreiben (Saxer 1999). Im Kontext einer Geschichte des Taschenbuchs interessieren dabei die Gattungen, die die folgenden Merkmale erfüllen.
Der Auftritt als Reiheist das zentrale Kriterium. Den Reihencharakter machen ein übergeordneter Reihentitel – oft mit einer Reihennummer für den einzelnen Band –, das Format, eine weitgehend einheitliche Buchgestaltung, ein niedriger – sehr oft einheitlicher – Ladenpreis bei relativ hoher Auflage und die Periodizität aus. Eine niederschwellige Definition bietet Isabelle Olivero in ihrer Untersuchung zur „paperback revolution in France“ an: „A nineteenth and twentieth century ‚collection‘ is a collectable series of uniform volumes, which brought the same high quality of production of ‚high-end‘ or ‚well produced‘ books to the inexpensive and popular book.“ (Olivero 2011: 72)
Eine Reihenforschung existiert im deutschen Sprachraum so gut wie nicht. Einzig Bry 1917 und Unger 2015 befassen sich mit dem Thema im engeren Sinn. Zusammenfassend Bast 1988 und Rautenberg 2015: 333f. Sehr differenziert und materialreich vor allem für den englischen Sprachraum Spiers 2011, besonders die Einleitungen zu den beiden Bänden. Für den französischen Sprachraum Olivero 1999, zusammenfassend Olivero 2011. Sie sieht die Reihenentwicklung im 19. Jahrhundert als „un phénomène européen“ (Olivero 1999: 13).
Der Reihentitelversucht, die Grundidee der Reihe zu vermitteln, und bindet Einzeltitel verschiedener Urheber zusammen. Dem dient auch die Reihennummer, die zudem den Umfang und damit in der Regel auch die Bedeutung der Reihe signalisiert. Reihentitel reichen von relativ unspezifischen Benennungen wie Universal-Bibliothek Universal-Bibliothek bis Formulierungen wie Neue Jugendbibliothek Jugendbibliothek, Neue , die die Zielgruppe eindeutig adressieren.
In den Reihen erscheinen sowohl selbständige und inhaltlich in sich abgeschlossene Publikationenals auch Lieferungen von Werkausgaben (zum Beispiel Walter Scotts Werke bei den Gebrüdern FranckhFranckh in Stuttgart ab 1827 in 150 Bändchen) oder Lieferungen von umfangreichen Werken wie die eines Kolportageromans. Inhaltlich (in ihrem Programm) sind Reihen keineswegs auf Fiction beschränkt, sondern umfassen auch nicht-fiktionale Stoffe. Die Spanne reicht von Enzyklopädien und Nachschlagewerken über Ratgeber und Erbauungsbücher bis zu wissenschaftlicher Literatur, sozusagen von ReclamReclams Universal-Bibliothek Universal-Bibliothek über Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände von Carl Joseph Meyer bis zur Sammlung Göschen Sammlung GöschenGöschen. Werner Faulstich hat die Entwicklung zur Reihe als Publikationsform pointiert charakterisiert: „Der Buch markt, soweit er sich zu einem Massen markt veränderte, wurde im Prinzip in einen Heft markt verwandelt und ging damit in einem allgemeinen Medien markt auf.“ (Faulstich 2004: 195) Diese pauschale Feststellung ist sicher zu differenzieren, aber bei der enormen Zahl an Reihen durchaus diskussionswürdig.
Die Reihe erscheint in der Regel in einem einheitlichen Format, das im Publikationsverlauf durchaus wechseln kann. Das Format reicht von der sehr kleinformatigen Etui-Bibliothek der Deutschen Classiker Etui-Bibliothek der Deutschen Classiker August SchumannSchumanns (8 cm x 9 cm) bis zum Großformat bei Enzyklopädien (ca. 25 cm x 30 cm).
Der Reihencharakter wird auch durch die Buchgestaltunghervorgehoben. So erschienen die Bände von ReclamReclams Universal-Bibliothek Universal-Bibliothek 50 Jahre lang im einheitlichen Reihendesign: rötlich-blasser Grundton des Einbands, floristische Elemente im linken Teil der Vorderseite und der Reihenname prominent am Kopf der Seite.
Der Ladenpreisder einzelnen Bücher bzw. Lieferungen war dank der technischen Fortschritte in der Buchproduktion und der relativ hohen Auflagenrelativ niedrig. Zeitgenössisch schlug sich das in der Opposition von Kulturbuch vs. Massenbuch nieder (Steinen 1912, siehe auch Jeremias 1938). Massenhaftigkeit ist ein wichtiges Bestimmungsmerkmal des seriellen Buchs.
„Format“ meint im engeren Sinn Papier- oder Buchformat, im erweiterten Sinn ist die Reihe mit ihren Bestimmungselementen ein „Format“. Eine Reihe hat ein Format, sie ist aber zugleich auch ein Format. Michael Niehaus hat den Format-Begriff in seiner perspektivenreichen Abhandlung Was ist ein Format? (Niehaus 2018) entfaltet: „Etwas wird genau dann als ein Format bezeichnet, wenn es als durch von außen gesetzte Formatvorgaben definiert betrachtet werden kann.“ Das Format als formale Institution ist „gewissermaßen zeitlos“, liegt also bereit und kann reaktiviert werden, und stellt „für verschiedene ‚Contents‘ eine Option“ dar (Niehaus 2018: 91). „Denn von sich aus hat das Format keine narrative, sondern nur eine serielle Dimension.“ (82) Pointiert ausgedrückt: „Das Format ist die Botschaft.“ (135) In dieser Betrachtungsweise ist die einzelne Reihe ein „Genre“ (86).
Periodizitätgrenzt die Reihen des 19. Jahrhunderts gegenüber Formen aus dem Jahrhundert zuvor wie Almanach und „Taschenbuch“ ab. Zwar treffen etliche der oben genannten Merkmale auch für diese beiden Formen zu (Bunzel 1999), doch kann beim einmaligen Erscheinen pro Jahr von einer Periodizität, wie wir sie als Basismerkmal einer Zeitschrift – im 18. Jahrhundert etwa die Moralischen Wochenschriften (siehe Martens 1968 und FischerFischer/Haefs/Mix 1999) – kennen, nicht die Rede sein. Reihen des 19. Jahrhunderts umfassen von wenigen Werken in einer kurzen Lebenszeit der Reihe, etwa die Rheinische Reise-Bibliothek für Dampfschiff und Eisenbahn Reise-Bibliothek für Dampfschiff und Eisenbahn, Rheinische (2 Bände zwischen 1859 und 1861), bis zu Tausenden von Titeln über Jahrzehnte hinweg wie die Tauchnitz-Edition Albatross Modern Continental Library, The, in der zwischen dem Start im Jahr 1841 und der Jahrhundertwende 3.400 Nummern verlegt wurden. Das Erscheinen erfolgt im Allgemeinen unregelmäßig, doch gibt es auch Fälle regelmäßigen Erscheinens wie Engelhorns allgemeine Roman-Bibliothek Engelhorns allgemeine Roman-Bibliothek (vierzehntäglich) und Kürschners Bücherschatz Kürschners Bücherschatz (wöchentlich).
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