Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für diese Entwicklung schuf eine neue Gewerbeordnung, die am 8. Juli 1868 als Gesetz für den Norddeutschen Bund verabschiedet wurde (Erlass am 21. Juni 1869) und die für den Kolportagebuchhandel sowie für jeglichen Handel mit Presseerzeugnissen bedeutete, „dass er nicht mehr dem Pressegesetz und damit den ‚direkten‘ Zensurbeschränkungen unterworfen war, sondern als Gewerbe betrachtet und durch die Gewerbeordnung geregelt wurde“, was „einer praktischen Freigabe der Presse gleichkam“ (Scheidt 1994: 142). Das Gesetz stellte den Wanderbuchhandel, den Kolportagebuchhandel und das Sortiment als gleichberechtigte Betriebsformen des Buchhandels nebeneinander.
Im Kolportagebuchhandel vertrieben wurden drei Hauptgruppen von Printmedien. Zum einen Periodika der verschiedensten Art, überwiegend jedoch Familienzeitschriften, zum anderen Werke, die auch im Buchhandel erhältlich waren wie Sammelwerke und Serien, Lexika, Fachliteratur und preiswerte Prachtausgaben, sowie schließlich Artikel, die in hohen Auflagen nur für den Kolportagebuchhandel produziert wurden wie Kalender, klerikale Traktate, Kochbücher, Traumbücher, Erotika, Kriegsschilderungen und politische Agitation bis hin zu medizinischen Ratgebern (Wittmann 1999: 272f.) Eine hochinteressante Übersicht über ‚kolportagefähige’ Werke bietet die Schrift Der Kolportagehandel von Friedrich Streissler aus dem Jahr 1887 (Beilage zu Kosch/Nagl 1993; eine weitere zeitgenössische Quelle bei Scheidt 1994, Anm. 269).
Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Zeitschriften aller Art zum Hauptvertriebsobjekt. Lieferungswerke wie die Klassiker, aber auch die Volksromane in Heften à 10 Pfennig traten mehr und mehr in den Hintergrund (Storim 2003: 529f.). Gleichzeitig differenzierten sich Kolportagebuchhandel und Reisebuchhandel/Versandbuchhandel aus: „Der Kolportagebuchhandel entwickelte sich zum Buch- und Zeitschriftenhandel […]. Der ehemalige ‚neue‘ Kolportagebuchhandel wandelte sich zum Reise- bzw. später Reise- und Versandbuchhandel mit einem deutlichen Gewicht auf der zweiten Komponente.“ (Storim 2003: 526)
Insgesamt ist die Bedeutung des Kolporteurs (frz. col: Nacken; porter: tragen), der mit dem Bücherkarren durch Städtchen und Dörfer oder mit der Bücherlade von Haus zu Haus zog, und des Kolportagebuchhandels für die Verbreitung von populären Lesestoffen in breiten Bevölkerungsschichten kaum zu unterschätzen. Gegen Ende des Jahrhunderts vermerkt ein Zeitgenosse, dass „zwei Drittel der gesamten buchhändlerischen Produktion auf dem Wege der Kolportage vertrieben wird“ (Kellen 1899: 82).
Die technische Entwicklung der Buchproduktion
Grundlegende Innovationen in den Bereichen Papier, Satz, Druck und Bindung, in denen die Herstellungstechnik sich seit den Zeiten Gutenbergs substantiell kaum weiterentwickelt hatte, schufen die Voraussetzungen für die massenhafte Verbreitung populärer Lesestoffe im 19. Jahrhundert – nicht zuletzt, weil durch diese „Revolutionierung der Buchherstellung“ (zusammenfassend Stümpel 1987, Fallbacher 1992: 90–108 und Wittmann 1999: 220–223) die Lesestoffe deutlich billiger und damit auch für einkommensschwache Schichten erschwinglicher wurden. Betrug der Preis für den fünften Jahrgang des beliebten Taschenbuchs Penelope aus der C. J. Hinrichschen Buchhandlung im Jahr 1844 noch umgerechnet 50 Silber- oder Neugroschen (Krieg 1953: 32), so kostete eine 600seitige Lessing-Ausgabe im Klassikerjahr 1867 zehn Silber- oder Neugroschen, die Einzelbände von ReclamReclams Universal-Bibliothek Universal-Bibliothek nur zwei Silber- oder Neugroschen (Bode 2003: 23).
Im Bereich der Papierherstellungwurde die 1799 patentierte Langsiebpapiermaschine des Franzosen Nicolas Louis Robert so verbessert, dass die 1818 in Berlin installierte erste deutsche Maschine mit Dampfbetrieb die bisherige Tagesproduktion bei besserer Qualität verzehnfachen konnte. Der traditionelle Rohstoff (Hadern und Lumpen) wurde bei steigendem Papierbedarf immer knapper. Dieser Engpass konnte mit der Erfindung des Holzschliffs durch Gottlob Keller im Jahr 1844 Schritt für Schritt beseitigt werden. Allerdings vergilbten und zerfielen die stark holzhaltigen Papiere schnell, was durch die 1863 in Amerika patentierte und 1874 in Deutschland eingeführte Sulfitkochung weitgehend behoben werden konnte. Dabei wurde der Holzschliff chemisch behandelt. Diese Verarbeitung des nun Zellstoff genannten Rohstoffs führte zu Papieren mit hohem Weißegrad und deutlich geringerer Vergilbungsanfälligkeit.
Im Bereich der Satzherstellungbrachte die Erfindung der Handgießmaschine im Jahr 1838 durch den Amerikaner David Bruce einen ersten wirklich Fortschritt, konnte doch damit die Arbeitsleistung eines Setzers annähernd verzehnfacht werden. Eine weitere Steigerung erlaubte die automatische Gießmaschine der französischen Firma Foucher Frères aus dem Jahr 1883. Sie lieferte in einem Arbeitsgang gebrauchsfertige Typen. Den wirklichen Durchbruch für einen Mengensatz – vor allem für Zeitungen – schaffte jedoch erst die Setzmaschine, vor allem Otmar Mergenthalers automatisch ausschließende Linotype von 1884, die nicht einzelne Typen, sondern Zeilen produzierte. Sie übertraf die Leistung eines guten Handsetzers um das Dreifache. Kurz vor der Jahrhundertwende entwickelte der Amerikaner Robert Lanston die Monotype, eine automatische Einzeltypen-Setz- und Gießmaschine.
Zum Bereich der Satzherstellung gehört auch das Stereotypie-Verfahren. Dabei wurde das einmal in Blei erstellte Satzbild nach einer Abformung in Gips und später in einer Papiermasse mit Schriftmetall ausgegossen. Der Text war damit „stereotypiert“, und das teure Letternmaterial konnte für andere Satzaufgaben genutzt werden. Dieses Verfahren war etwa seit 1820 für immer wieder gedruckte oder in Massen hergestellte identische Texte allgemein üblich (siehe Wilkes 2010).
Im Bereich des Drucks wurde über Jahrhunderte zwar die Handpresse technisch optimiert, doch eine qualitative Veränderung brachte erst die Zylinder-Schnellpresse, für die Friedrich König 1811 in London ein Patent erhielt. Sie wurde zunächst für den Zeitungsdruck eingesetzt, danach auch immer häufiger für den Buchdruck. Arbeitete die dampfbetriebene Schnellpresse noch mit Papierbogen, so baute der Amerikaner William Bullock 1865 die erste funktionierende Rotationsmaschine. Das Papier wurde hier als Papierbahn von der Rolle zugeführt und in einem Durchlauf von beiden Seiten bedruckt. Als Druckform dienten Rundstereotypie-Platten. Die Maschine lief vollautomatisch und schaffte 10.000 Bogen pro Stunde. Für den Buchdruck blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts überwiegend die Königsche Schnellpresse im Einsatz. Doch soll bereits 1866 auf der von Bullock konstruierten Maschine ein Buch mit einem Umfang von fast 700 Seiten gedruckt worden sein (Wilkes 2010: 186). 1875 wurde Meyers Konversationslexikon in Leipzig auf einer Rollenrotationsmaschine der Firma MAN hergestellt.
Im Bereich der Bindungwar Buchbinden vom 17. Jahrhundert bis etwa 1840 im wörtlichen Sinn ein Hand-Werk ohne technische Hilfsmittel und Maschinen. Einzige Ausnahme war die Stockpresse. Jetzt kamen unter anderen die Schneidemaschine (Frankreich, seit 1837), die Falzmaschine (England, seit 1849), die Drahtheftmaschine (Deutschland, seit 1875) und die Fadenheftmaschine (Deutschland, seit 1884) hinzu, was die buchbinderischen Voraussetzungen für eine massenhafte Produktion schuf.
Die in diesem Kapitel geschilderten Entwicklungen – die Ausweitung des Lesepublikums, die Ausdifferenzierung und Ausweitung der Printmedien, die Ausdifferenzierung und Ausweitung der Vertriebswege sowie die technische Entwicklung der Buchproduktion – führten zu einer inhaltlichen Bandbreite und Vielfalt des literarischen Markts, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird.
Читать дальше