Auf der anderen Seite steht eine mitunter ganz erstaunliche Scheu an der kirchlichen Basis, sich nicht in „zivilem Ungehorsam“ über Konfessionsgrenzen hinwegzusetzen, wie es sogar Papst Franziskus (Pontifikat: seit 2013)$Franziskus, Pontifikat seit 2013, römisch-katholischer Papst in der Frage des gemeinsamen AbendmahlsAbendmahl von konfessionsverschiedenen Ehepaaren angeraten hat (vgl. Metzger, 2016, 40–42). Einer Verflachung der Konfessionalität und der konfessionellen Problematik widerspricht darüber hinaus auch das zu beobachtende Interesse von Christen in einer globalisierten Welt an dem, was andere Christen leben und wonach sie sich ausrichten. Gleichfalls ist der Bildungshunger von Christen zu konstatieren, die in Zeiten des Relevanzverlustes des Christentums über ihre eigene Konfession Bescheid wissen möchten. Von daher ist es nach wie vor ein wichtiges und wesentliches Unterfangen, konfessionelles Wissen zu erwerben, ökumenische Diskussionen zu führen und die ökumenische Annäherung zu praktizieren. Besonders scheint es da angeraten, wo praktische Probleme ihrer Lösung harren (vgl. Metzger, 2014).
Streitfelder in und zwischen den KonfessionenWährend sich durch die religiöse SelbstermächtigungSelbstermächtigung und den „zivilen Ungehorsam“ scheinbar mühelos aus den ökumenischen Sackgassen der alten Probleme befreit wird, werden andere Diskussionen in den Konfessionen mit großer Wucht geführt. Dabei verlaufen neue Fronten nicht mehr entlang der Konfessionsgrenzen, sondern durch alle Konfessionen und Kirchen hindurch. Um diese Entwicklung auf den Punkt zu bringen, lässt es sich am ehesten auf die Begriffe liberal Liberal und konservativ Konservativ zurückgreifen, ohne dass hier politische Ausrichtungen oder wertende Konnotationen mitschwingen. Auch eine allzu präzise Zuordnung von Haltungen, Charakteristika oder Gruppenzugehörigkeiten ist mit diesen Termini nicht möglich. Liberal meint im weitesten Sinne die progressive Bereitschaft, neue Positionen einzunehmen, konservativ das Bestreben, traditionelle Positionen als zukunftsweisend zu bewahren. Liberale und konservative Gruppen stehen sich gegenüber, ohne dass dabei traditionelle Konfessionsgrenzen ein Hindernis darstellen.
Die wesentlichen Diskussionspunkte, die gegenwärtig liberaleLiberal und konservativeKonservativ Fronten evozieren, sind → FrauenordinationFrauenordination und Frauen in kirchlichen Leitungsämtern, → HomosexualitätHomosexualität von Kirchengliedern und Geistlichen und – mit beidem im Zusammenhang stehend – die Frage nach dem Verständnis der Heiligen Schrift. Auf diese drei Aspekte als konfessionsüberschreitende Frontlinien wird im → Ausblickausführlich eingegangen werden. An dieser Stelle aber werden kurz die Folgen dieser Frontstellung für die KonfessionskundeKonfessionskunde skizziert.
Konsequenz für die KonfessionskundeKonfessionskundeDie Herausforderung für das Fach KonfessionskundeKonfessionskunde ist, dass sich konfessionelle Grenzen zunehmend schwerer definieren lassen. Sobald bei den transkonfessionellen Frontstellungen die gemeinsamen Ziele der aus verschiedenen Konfessionen zusammengesetzten Gruppen erreicht wurden (oder sie sich eingestehen, dass die Ziele nicht zu erreichen sind), zerfallen die sozialen Einheiten, können sich aber bei einem anderen kontroversen Thema, sogar auf verschiedenen Seiten, wieder begegnen. Die jeweilige konfessionelle Anbindung spielt dabei so gut wie keine Rolle.
In Analogie zur zunehmenden Bedeutungslosigkeit früherer politischer oder sozialer Zuordnungen wie „rechts“ und „links“ oder „oben“ und „unten“ verlieren Bezeichnungen wie „katholisch“ oder „evangelisch“, „orthodox“ oder „anglikanisch“ ihre Deutekraft, wenn es darum geht, konkrete Positionen zu bezeichnen. Somit steht die KonfessionskundeKonfessionskunde zunehmend unter dem Druck des Zerfalls ihrer Beobachtungsfelder in eine konfessionslose Praxis und eine kirchliche Theorie ihrer selbst. Wenn sich Gruppen innerhalb einer Kirche von ihrer „eigentlichen“ Position, d.h. der konfessionellen Bindung ihrer Kirche, kaum noch leiten lassen, dann kann konfessionskundlich nur darauf hingewiesen werden, dass es sich im Folgenden um Darstellungen des theoretischen Selbstbildes handelt, nicht um ein reales Abbild. Dann stehen mitunter konfessionelle Grenzen nur noch unverstanden in nicht gelesenen Büchern – u.a. Papst Franziskus wies darauf hin, dass die Lehre der Kirche in Büchern stehe, die schwer zu lesen seien (vgl. Metzger, 2014) – und werden deshalb vergessen, nicht beachtet oder nur als Verbote erlebt, ohne dass ihre Begründungen und ihr historisches Geworden-Sein verstanden wird.
Eine jede KonfessionskundeKonfessionskunde muss sich ihrer Grenzen bewusst sein, ebenso der Veränderungen, in denen sie selbst steht, und sich darum bemühen, die theologischen Beschreibungen einer Kirche mit der in ihr gelebten Wirklichkeit in Beziehung zu setzen. Phänomenologisch kann es hier zu Überraschungen kommen, die entweder zeigen, wie belastbar konfessionelle Merkmale geworden sind und wie dehnbar oder durchlässig konfessionelle Grenzen geworden sind. Die Konfessionskunde muss die Fähigkeit entwickeln, ohne Scheuklappen kirchlich-plurale, transkonfessionelle und zunehmend auch synkretistische Phänomen zu erfassen. Dann, aber nur dann, gewinnt sie entscheidend an Bedeutung für die Durchdringung und Beschreibung der religiösen Landschaft der Gegenwart.
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2 Die Ausdifferenzierung des ChristentumsAusdifferenzierung (des Christentums) im Überblick
Jesus ChristusJesus ChristusAm Anfang der Kirchengeschichte steht die Interpretation der Person Jesu von Nazareth. Die Anhänger dieses jüdischen ProphetenProphet behaupteten nach dessen Kreuzigung, dass dieser Mensch der erwartete Messias, der Sohn Gottes gewesen sei. In diesem Anfang liegt die Begründung der PluralitätPluralität – Pluralisierung des Christentums. Verschiedene Menschen sahen in Jesus von Nazareth den Christus. Sie fanden sich zusammen und bildeten den Kern dessen, woraus sich verschiedene Kirchen entwickelten.
Vielfalt und AusdifferenzierungAusdifferenzierung (des Christentums)Die historische Entwicklung von den Anfängen in Jerusalem oder Galiläa bis zu den gegenwärtigen Kirchen kann als Ausdifferenzierungsprozess der einzelnen Interpretationen verstanden werden. Weil jeder Mensch partiell anders erkennt und versteht, gibt es zu keiner Zeit eine einzige Kirche, die aufgrund von Spaltungen ihre „gottgegebene“ Einheit und Identität verloren hat, sondern es stehen von Anfang an unterschiedliche Interpretationen nebeneinander, die einmal mehr, einmal minder friedlich koexistieren.
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