Interesse und Erkenntnis
Vergangenheit gibt es immer nur im Modus der Gegenwart des Interpreten
Das klassische Ideal des Historismus, nur zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“ 1ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat. Die Gegenwart verliert mit ihrem Übergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren Realitätscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwärtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet Abständigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschließlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant aus der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwärtige Weltgestaltung und Weltdeutung einfließt 2. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, sein geographischer Lebensort, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die Vergangenheit sagt 3. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des Gewesenen, weil sie selbst immer eine Geschichte hat, nämlich die Geschichte des Schreibenden. Das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist ‚Objektivität‘ als Gegenbegriff zu ‚Subjektivität‘ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben 4. Vielmehr sollte von ‚Angemessenheit‘ oder ‚Plausibilität‘ historischer Argumente gesprochen werden 5. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen ist uns zugänglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse liegen vor uns. Erst durch unsere Zuschreibung werden die Dinge zu dem, was sie für uns sind. Geschichte wird nicht rekonstruiert, sie wird unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Es gilt: „es wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte“ 6. Geschichtsschreibung geht somit über ein bloßes Vergangenheitsverhältnis weit hinaus; sie ist eine Form von Sinndeutung und Sinnstiftung, ohne die individuelles und kollektives Leben gar nicht möglich wären.
Fakten und Fiktion
Fakten und Fiktion fließen stets ineinander
Geschichte erweist sich somit immer als ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten 7. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; mit der Herstellung historischer Erzählzusammenhänge erlangen die Fakten den Status, der ihre Bedeutsamkeit für uns ausmacht. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘ 8, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. Indem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen 9. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse.
Das Vorgegebene
Konstruktion bezieht sich immer auf Vorgegebenes
Zugleich sind Aussagen immer eingebunden in vorgegebene allgemeine Wirklichkeits- und Zeitvorstellungen, ohne die Konstruktion und Kommunikation nicht möglich sind. Es gibt zweifellos eine Realität, die vor, neben und nach, vor allem aber unabhängig von unserer Wahrnehmung und Beschreibung existiert. Jeder Mensch ist zudem genetisch vor-konstruiert und ständig sozial-kulturell ko-konstruiert. Reflexion und Konstruktion sind immer nachfolgende Akte, die sich auf etwas Vorgegebenes beziehen, so dass jede Form von Selbstgewissheit nicht in sich selbst ruht, sondern jeweils den Bezug auf etwas Vorausliegendes benötigt, das es begründet und ermöglicht. Schon die Tatsache, dass die Frage nach Sinn möglich ist und Sinn gewonnen werden kann, verweist auf eine „unvordenkliche Wirklichkeit“ 10, die allem Sein vorausgeht und ihm den Wirklichkeitsstatus verleiht. Grundsätzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrunde liegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben Realitätsanspruch erheben kann wie die ihr zugrunde liegenden Ereignisse. Nicht die Welt und das Leben sind eine Konstruktion, wohl aber unsere Anschauungen über sie; für uns ist beides aber faktisch nicht auseinanderzuhalten.
1.2 Geschichte und Methode
Gerade das unausweichliche fiktional-kreative Element jeder Geschichtsschreibung erfordert eine umfassende Einbeziehung aller relevanten Quellen, eine Berücksichtigung der zentralen kulturellen Voraussetzungen und Kontexte und eine Kombination verschiedener Fragestellungen, um so das natürliche subjektive Element vor subjektivistischen Engführungen zu bewahren 11.
Quellen
Quellenvielfalt
Die Hauptquelle sind natürlich alle Schriften des Neuen Testaments; insbesondere die Paulusbriefe, die Apostelgeschichte und die Evangelien. Zudem sind das griechische Alte Testament (Septuaginta/LXX) und die gesamte jüdische Literatur von ca. 200 v.Chr.-100 n.Chr. zu berücksichtigen, sofern sie für das frühe Christentum von Bedeutung sind (s.u. 3.3.1). Hinzu kommen die Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus (ca. 37/38 n.Chr. − ca. 100 n.Chr.), dessen Hauptwerke ‚Bellum Judaicum‘ (= ‚Der jüdische Krieg‘; geschr. ~ 78/79 n.Chr.) und ‚Antiquitates Judaicae‘ (= Jüdische Altertümer‘; ~ 94 n.Chr.) für das Verständnis des antiken Judentums von größter Bedeutung sind. Aus dem griechisch-römischen Bereich sind vor allem die römischen Historiker Tacitus (ca. 60–120 n.Chr./Hauptwerke: Historiae = ‚Historien‘; ~ 105 n.Chr.; Annales = ‚Annalen‘; ~ 115 n.Chr.), Sueton (ca. 70–140/150 n.Chr./Hauptwerk: De vita Caesarum = Kaiser-Viten; ~ 120 n.Chr.) und Dio Cassius (ca. 160–235 n.Chr./Hauptwerk: =
/Historia romana = ‚Römische Geschichte‘, ~ 230 n.Chr.) zu nennen 12. Sie hatten Zugang zu zahlreichen (heute verlorenen) Quellen und überliefern auch wertvolle Informationen über das Verhältnis des römischen Staates zum Judentum und zum entstehenden frühen Christentum. Zu beachten sind ferner einzelne außerbiblische Zeugnisse zu Jesus und dem frühen Christentum, die zeigen, wie man diese Person/Bewegung wahrgenommen hat. Eine einzigartige Quelle für die Wahrnehmung der Christen durch die Römer finden wir im Briefwechsel zwischen dem Statthalter Plinius und dem Kaiser Trajan (um 110 n.Chr.), der über die Rechtsfragen hinaus Einblick in das Denken der imperialen Führungsschicht gewährt (s.u. 12.4). Zu berücksichtigen sind auch die großen philosophischen Strömungen um die Zeitenwende herum (s.u. 3.2.1), denn im Gegensatz zu heute bestimmten philosophisch-religiöse Gedanken weite Kreise der Bevölkerung. Schließlich sind auch Inschriften, Münzen und architektonische Zeugnisse (z.B. der Titusbogen in Rom) zu berücksichtigen, wenn sie auch für das frühe Christentum aussagekräftig sind.
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