Verlagerung von Exklusionsbegründungen auf Performanzdefizite und Fördersemantik
Unter explizitem Rückgriff auf ein Merkmal wie die soziale Herkunft eines Kindes oder Jugendlichen wäre die Begründung eines solchen Ausschlusses offen diskriminierend und damit eindeutig rechtswidrig. Pfahl konstatiert daher eine Verlagerungstendenz: Ehemals ständisch organisierte Bildungssysteme nehmen heute oftmals den Umweg über die Zuschreibung von Performanz- beziehungsweise Kompetenzdefiziten und das Versprechen einer «individuellen Förderung», um Formen der Segregation von Kindern und Jugendlichen entlang sozialer Herkunft zu legitimieren (Pfahl, 2010, S. 1 f.).
Literatur
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Bielefeldt, H. (2011). Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention. In Moser, V. & Horster, D. (Hrsg.), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung – eine Grundlegung (S. 149–166). Kohlhammer.
Degener, T. (2009). Die UN-Behindertenrechtskonvention als Inklusionsmotor. Recht der Jugend und des Bildungswesens, (2), 200–219.
Kälin, W., Künzli, J., Wyttenbach, J., Schneider, A. & Akagündüz, S. (2008). Mögliche Konsequenzen einer Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz. Gutachten zuhanden des Generalsekretariats GS-EDI/Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen EBGB. Institut für öffentliches Recht der Universität Bern.
Kastl, J. M. (2010). Einführung in die Soziologie der Behinderung. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Pfahl, L. (2010). Sonderschulen, Arbeitsmärkte, behindernde Subjektivierung. In Soeffner, H.-G. (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 43. Kongresses der DGS. Band 2 (CDROM). Campus.
Powell, J. J. W. (2013). Kulturen der sonderpädagogischen Förderung und «schulische Behinderung»: Ein deutsch-amerikanischer Vergleich. In Hummrich, M. & Rademacher, S. (Hrsg.), Kulturvergleich in der qualitativen Forschung. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und Analysen (S. 139–154). Springer VS.
Tomlinson, S. (2017). A sociology of special and inclusive education. Exploring the manufacture of inability. Routledge.
UN (2014). Convention on the rights of persons with disabilities. www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml.
Weisser, J. (2010). Sozialraumorientierung und Situationen der Behinderung. Über die sozialräumliche Strukturierung von Abhängigkeitsbeziehungen. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, (1), 4–10. doi:10.2378/vhn2010.art01d.
ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage
Judith Hollenweger
Von einer Behinderung betroffene Kinder und Jugendliche erfahren in der Schule oft eine fehlende Passung zwischen Anforderungen und ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten. Behinderung bedeutet immer sowohl «behindert sein» als auch «behindert werden». Traditionelle Behinderungskategorien suggerieren hingegen unveränderliche Eigenschaften und entziehen sich somit einer situativen Analyse. Die «Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit» (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) bietet die Grundlage für ein neues, adäquateres Verständnis. Die ICF und die Version für Kinder und Jugendliche (ICF-CY) basieren auf einem bio-psycho-sozialen Verständnis: sie analysieren Behinderungen also nicht nur als Probleme des Körpers, sondern auch als Probleme der Aktivitäten einer Person und des Einbezogenseins in Lebenssituationen. Die ICF sieht diese drei Aspekte der Funktionsfähigkeit in Abhängigkeit von Umweltfaktoren und von personbezogenen Faktoren. Das Modell und die Klassifikation der ICF sollen im Folgenden vorgestellt und anhand von Beispielen ausgeführt werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei einem besseren Verständnis des Zusammenwirkens dieser Komponenten in spezifischen Situationen gegeben. Auf dieser Grundlage gelingt es besser, die Lebenssituation der betroffenen Kinder oder Jugendlichen zu verstehen und die schulischen Anforderungssituationen anzupassen. Dies ist Voraussetzung dafür, dass Kinder mit Behinderungen am Lernen und Zusammenleben in der Schule partizipieren können.
Unterricht ist dann gut, wenn alle daran beteiligten Kinder für ihre Entwicklung und Bildung optimal profitieren können. Eine Schule für alle ist eine Schule, in der alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam leben und lernen. Dabei sind der Lehrplan, die Lehrmittel, Aufgaben und Unterrichtsmaterialien wichtige Orientierungspunkte. Bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen können hier allerdings Schwierigkeiten auftreten, weil sie erwartete Voraussetzungen nicht mitbringen oder unerwartete Bedürfnisse beim Lernen und Interagieren haben. Wie können Lehrerinnen und Lehrer Unterrichtssituationen planen und gestalten, Hilfen bereitstellen, Ziele festlegen und überprüfen, sodass alle Schülerinnen und Schüler angesprochen und herausgefordert sind und von den geschaffenen Lerngelegenheiten profitieren können? Dies erfordert hohe Professionalität, deren Grundlagen im Studium erworben werden und die sich im Verlaufe der beruflichen Tätigkeit weiterentwickelt. Erforderlich ist auch ein tragendes Netzwerk verschiedener Fachleute, auf das sich Regellehrpersonen abstützen können.
Traditionelle Behinderungsbegriffe sind wenig hilfreich
Was können Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulzeit? Was nehmen sie mit an Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen, wie viel Selbstvertrauen und Freude am Lernen oder Interesse an Neuem haben sie? Damit Lehrpersonen allen Schülerinnen und Schülern ein adäquates Lernangebot machen können, schätzen sie laufend die Voraussetzungen, die gegenwärtige Situation sowie das Potenzial der einzelnen Kinder und Jugendlichen ein. Doch was ist, wenn ein Kind eine Behinderung hat? Behinderungen schaffen Unsicherheit für alle direkt oder indirekt Betroffenen, weil damit andere Lernvoraussetzungen, besondere Anforderungen an Lernsettings, ungewohnte Interaktionsformen sowie Ungewissheit des Bildungserfolgs verbunden sind. Diese Unsicherheit kann nur reduziert werden, wenn Lehrpersonen ein besseres Verständnis der Situation des Kindes gewinnen – als Grundlage für ihr eigenes Handeln. Traditionelle Behinderungsbegriffe wie geistige Behinderung, Lernbehinderung, Körperbehinderung oder ähnliche Konzepte sind wenig hilfreich, denn sie fokussieren nur auf das, was eine Lehrperson meist nicht ändern kann. Doch auch im schulischen Kontext verwenden immer noch viele Fachpersonen ausschließlich Begriffe wie Down-Syndrom, geistige Behinderung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Verhaltensstörung, Lernbehinderung oder Autismus, wenn es darum geht, Schwierigkeiten zu erklären. Mit der Bestimmung einer Störung glaubt man zu wissen, was das Kind hat, was dem Kind fehlt und wie man ihm helfen kann. Oft bewirken solche Feststellungen genau das Gegenteil: Lehrpersonen fühlen sich hilflos, weil sie aus solchen Diagnosen keine Informationen ziehen können, die ihnen neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Komplexe Schwierigkeiten werden auf eine oft nicht einmal klar definierbare Eigenschaft des Kindes reduziert; problematische Situationen und Probleme zwischen Menschen werden zu einem Problem des Kindes gemacht.
Wichtige Informationen für Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht
Alle wirklich wichtigen Informationen betreffend Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht sind in diesen Begriffen nicht mehr sichtbar: Welche Aufgaben kann das Kind bewältigen, respektive wie müssen diese angepasst werden, damit das Kind sie bewältigen kann? Mit welchen Lehr-Lern-Settings kann es sich am besten am Unterricht beteiligen? Wie lassen sich Ziele setzen und deren Erreichung beurteilen, respektive wie können Rückmeldungen zu Lernen, Leistungen und Entwicklung gegeben werden? Was kann beispielsweise Sarah besonders gut? Wie kann Tobias motiviert werden? Wo brauchen die von einer Behinderung betroffenen Kinder Unterstützung, und wo müssen sie herausgefordert werden? Wann lernen sie besser allein als mit der Hilfe von Klassenkameraden? Wie erklärt die Lehrerin der Klasse, weshalb Ivana beim Schreiben einer Prüfung mehr Zeit erhält? Hinter Diagnosen verschwindet fast alles, was Lehrpersonen über Kinder mit Behinderungen wissen müssen.
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