Sonderpädagogik
Sonderpädagogik (englisch: special needs education) geht von besonderen Lern- und Lehrsituationen aus. Dies heißt, dass es daneben auch übliche, nicht besondere Lern- und Lehrsituationen gibt. Dieses Verständnis wird von Vertreterinnen und Vertretern einer Inklusionspädagogik (z. B. Wolfgang Jantzen, Ines Boban, Andreas Hinz) infrage gestellt. Sie argumentieren, dass die Schaffung einer Kategorie «besonderer» pädagogischer Bedürfnisse eine künstliche Abgrenzung ist. Dieser Argumentation folgend ist jedes Kind besonders und hat auch besondere pädagogische Bedürfnisse im Vergleich zu anderen Kindern. Eine besondere Pädagogik für eine bestimmte Gruppe von Kindern ist demzufolge nicht nur unnötig, sondern vor allem mit negativen Konsequenzen wie Stigmatisierung, systematischer Unterforderung und Diskriminierung verbunden. Einfacher formuliert: Wenn die allgemeine Pädagogik gut genug für alle Schülerinnen und Schüler ist, braucht es keine Sonderpädagogik.
Von sonderpädagogischer Seite her kann dagegen argumentiert werden, dass es pädagogische Bedürfnisse einzelner Kinder gibt, die das in der Praxis bestehende Schulsystem überfordern. Eine adäquate Förderung dieser Kinder erfordert spezielles Know-how, besondere Rahmenbedingungen oder spezifische Ressourcen, die üblicherweise in der Schule nicht zur Verfügung stehen und die für den größten Teil der Schülerinnen und Schüler auch nicht notwendig und nicht angemessen sind.
Mit der Gegenüberstellung dieser beiden Argumentationen ergeben sich zwei wesentliche Fragen für die Praxis:
1. Wie können «besondere» pädagogische Bedürfnisse definiert werden, und wie unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler mit von solchen ohne besondere pädagogische Bedürfnisse?
— Eine mögliche Antwort auf diese erste Frage ergibt sich über einen bio-psycho-sozial definierten Behinderungsbegriff, wie zum Beispiel eine Begriffsdefinition auf der Basis der ICF. → Siehe auch Beitrag von Hollenweger.
2. Wie können Schülerinnen und Schüler mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen gefördert werden, ohne sie Nachteilen wie Stigmatisierung, Unterforderung oder Diskriminierung auszusetzen? In welchen Situationen brauchen einzelne Lernende bzw. einzelne Gruppen von Lernenden spezifische Anpassungen des Unterrichts? Wie können solche Situationen aussehen? Welche Handlungsmöglichkeiten haben Lehrpersonen, um in solchen Situationen ohne die genannten Nachteile intervenieren zu können?
— Eine mögliche Antwort auf die zweite Frage ist die inklusive Umsetzung sonderpädagogischer Förderung und das Lernen in Kooperation am gemeinsamen Gegenstand im inklusiven Unterricht der Regelschule. → Siehe auch Beitrag von Müller Bösch und Schaffner Menn.
ICF: Umweltfaktoren
Es geht in diesem Buch um besondere Situationen in der Schule, im Unterricht. Das Studienbuch unterstützt einen Unterricht für alle, ohne Ausschluss von Lernenden, und hat damit vor allem Maßnahmen in konkreten Unterrichtssituationen und damit auf der Mikroebene des Bildungssystems (vgl. Fend, 2006) im Fokus. Daneben werden Handlungsmöglichkeiten auf der Mesoebene (Schuleinheit und professionelle Zusammenarbeit im Team) sowie Aspekte auf der personalen Ebene (Einstellungen, Grundhaltungen) aller Beteiligten immer wieder aufgegriffen und ausgeführt.
Das Buch hat zum Ziel, sonderpädagogische Grundlagen in kompakter Form zu vermitteln und Handlungsmöglichkeiten im Unterricht aufzuzeigen. Es orientiert sich in allen seinen Bereichen nicht an den Defiziten des Kindes, sondern an Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen in konkreten Unterrichtssituationen.
Fokussiert werden Handlungsmöglichkeiten in verschiedenen Situationen im Unterricht, in denen unterschiedliche besondere Bedürfnisse bei einzelnen oder mehreren Lernenden auftreten: Den besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen müssen Lehrpersonen in der Praxis kompetent begegnen können. Lehrpersonen haben den Auftrag, im Unterricht der Vielfalt an Lernvoraussetzungen gerecht zu werden und alle Lernenden zielbezogen zu fördern. Das Studienbuch orientiert sich hier an einer Vielfalt von Situationen, die kategorisiert werden, und an den Handlungsmöglichkeiten von Lehrpersonen im inklusiven Unterricht.
Nach dem einführenden ersten Teil, in dem grundlegende Modelle und Konzepte einer inklusiven Schule besprochen werden, widmet sich der zweite Teil der Praxis inklusiven Unterrichts: Wie kann Unterricht didaktisch so gestaltet werden, dass gemeinsamer Unterricht aller Schülerinnen und Schüler möglich wird?
ICF
Als Struktur für den dritten, differenziellen Teil nutzt das Buch die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO (z. B. in Deutsch erhältlich beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI, 2005). → Siehe auch Beitrag von Hollenweger. Entlang der Kapitel der Domäne «Aktivität und Partizipation» werden Handlungsmöglichkeiten im Unterricht aufgezeigt:
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich des Lernens und der Wissensanwendung
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich Aufgaben und Anforderungen
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich Spracherwerb und Begriffsbildung
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Kommunikation
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich Mobilität
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich Selbstversorgung
— Handlungsmöglichkeiten im Bereich Gemeinschaft, soziales und staatsbürgerliches Leben
Literatur
Baumert, J. & Kunter, M. (2006). Professionelle Kompetenz von Lehrpersonen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9 (4), 469–520.
Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2011). Förderplanung. Bildungsdirektion des Kantons Zürich.
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI (2005). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). www.dimdi.de/static/de/klassi/icf/index.htm.
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information DIMDI (2010). Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-10). www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icd-10-who/version2011/systematik/.
Engeström, Y. (1987 ). Learning by expanding: An activity-theoretical approach to developmental research (with the Introduction to the German Edition). Orientakonsultit. http://lchc.ucsd.edu/MCA/Paper/Engestrom/expanding/toc.htm.
Engeström, Y. (1999). Activity theory and individual and social transformation. In Engestrom, Y., Miettinen, R. & Punamäki, R.-L. (Hrsg.), Perspectives on Activity Theory (S. 19–38). Cambridge University Press.
Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Lehrbuch. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Hengartner, E., Hirt, U., Wälti, B. & Primarschulteam Lupsigen (2006). Lernumgebungen für Rechenschwache bis Hochbegabte. Klett.
Hinz, A. (2009). Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch deren Ende? Zeitschrift für Heilpädagogik, 60 (5), 171–179.
Kunz, A. & Gschwend, R. (2011). Kooperation im Rahmen der Förderplanung. In Luder, R., Gschwend, R., Kunz, A. & Diezi-Duplain, P. (Hrsg.), Sonderpädagogische Förderung gemeinsam planen. Grundlagen, Modelle und Instrumente für die Praxis (S. 105–128).Verlag Pestalozzianum.
Kunz, A., Gschwend, R. & Luder, R. (2011). Webbasierte interdisziplinäre Förderplanung bei auffälligem Verhalten. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, (8) , 19–26.
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