— Verweise auf andere Beiträge in diesem Buch sind mit einem Pfeil ( →) im Text ersichtlich und machen die Leserin und den Leser auf inhaltliche Verbindungen zwischen den Beiträgen aufmerksam.
Die Idee zum Buch entstand ursprünglich im Fachteam Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Dieses zeigt sich inhaltlich verantwortlich für sonderpädagogische Themen in Ausbildung, Weiterbildung, Beratung und Forschung. Umgesetzt wurde die Idee von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Hochschulen in der Schweiz und Luxemburg mit Expertise in den Themen der jeweiligen Beiträge. Die aktuell vorliegende komplette Überarbeitung entstand in enger Kooperation mit allen Autorinnen und Autoren.
Dieses Buch richtet sich vor allem an angehende und praktizierende Lehrpersonen, schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, therapeutische Fachpersonen sowie Schulleitungen.
Das dargestellte Handlungswissen ist weder vollständig noch abschließend, sondern soll Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Thema und für die Diskussion darüber sein.
Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die sich als Autorinnen und Autoren der Aufgabe angenommen haben, einen Beitrag für dieses Studienbuch zu leisten. Sie haben die Texte verfasst und sie aufgrund von Rückmeldungen aus dem langjährigen Einsatz des Studienbuchs in der Lehre sowie aus Feedbacks von Kolleginnen und Kollegen im Team der Autorinnen und Autoren überarbeitet, was wir sehr schätzen. In einem Beitrag konnten wir mit Hilfe von Barbara Frey wichtige Fotos zur Illustration realisieren, und im Beitrag «Kognitive Beeinträchtigung im inklusiven Unterricht» hat Lucien Le als Gastautor einen Text zum Thema «Möglichkeiten und Grenzen im gemeinsamen Unterricht» als Erfahrungsbericht in Form eines Exkurses verfasst – vielen Dank an beide!
Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern inspirierende Ideen für den Alltag und die tägliche Herausforderung, eine inklusive Schule zu gestalten und damit zu erhalten.
— Zürich, im Sommer 2021
— André Kunz, Reto Luder und Cornelia Müller Bösch
[ 1] Moritz Wyder ist Gastreferent im Grundmodul «Inklusive Bildung» an der PH Zürich und sehbehindert. Die zitierte Aussage stammt aus der DVD «Integrative und individualisierende Lernförderung». Sie wurde im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich im Jahr 2007 durch die FRAMIX GmbH realisiert.
Unterricht und Heterogenität
Das Besondere der Pädagogik einer inklusiven Schule
Reto Luder, André Kunz und Cornelia Müller Bösch
Inklusion. Eine Schule für alle. Integration. Umgang mit Vielfalt. Diese Schlagworte prägen aktuell die Bildungslandschaft. Was ist eine inklusive Schule in der Praxis? Was bedeutet Inklusion konkret im Schulalltag für die Schülerinnen und Schüler, für den Unterricht und für die Lehrperson? Diesen Fragen will das vorliegende Buch nachgehen und Antworten dazu liefern – Antworten primär für Lehrerinnen und Lehrer und Studierende, die Lehrerin oder Lehrer werden wollen. Aber auch für pädagogisch-therapeutische Fachpersonen, Eltern und weitere Interessierte. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie inklusive Förderung und Unterstützung oder, mit einem anderen Wort, Inklusion praktisch umgesetzt werden kann. Im ersten Kapitel geht es darum, was eine inklusive Schule ausmacht und ob es in einer inklusiven Schule überhaupt noch Sonderpädagogik braucht – und falls ja, in welcher Form, was deren Aufgabe ist und was das für die Praxis bedeutet. Auf dieser Grundlage folgt eine Übersicht über die Inhalte des Buches und die Struktur, nach der diese Inhalte aufbereitet sind.
Die Entwicklung der Schule in Richtung Inklusion ist in vollem Gang und im deutschsprachigen Raum mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem weniger die grundsätzlichen ethischen Debatten um den Sinn von Inklusion im Allgemeinen im Zentrum stehen, sondern das Interesse vermehrt auf Fragen der konkreten Umsetzung in der Praxis liegt.
Inklusion und inklusive Schule
Inklusion/Integration
Gelungene Inklusion nach UNESCO
In der Fachdiskussion der letzten Jahre wird der Begriff der Inklusion sehr oft und sehr unterschiedlich gebraucht (vgl. Leidner, 2012; Luder, 2016). In der Literatur sind die Begriffe «Integration» und «Inklusion» nicht einheitlich mit Inhalten gefüllt. Uneinigkeit besteht darüber, welche Praxis dem einen oder anderen Begriff zuzuordnen ist. So ist der Sachverhalt, dass als «behindert» diagnostizierte Kinder zum Beispiel in einem Kindergarten geschult werden, in einigen Beschreibungen schon ein Merkmal für Inklusion, in anderen erst der Beginn der Integration. Im internationalen Kontext wird nur der Begriff inclusion beziehungsweise inclusive education verwendet als ein zielgerichtetes, förderorientiertes Miteinander in Situationen im Unterricht ohne Ausschluss. Um eine gelungene Inklusion zu realisieren, genügt es nicht, einen Schüler oder eine Schülerin mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen einfach in die Regelklasse zu schicken. Vier Bedingungen müssen zumindest erfüllt sein, damit von gelungener Inklusion gesprochen werden kann (UNESCO, 2005):
— Presence: Alle Kinder sollen die Möglichkeit haben, den Unterricht gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in einer Regelklasse zu besuchen.
— Acceptance: Alle Kinder sollen mit ihren unterschiedlichen, jeweils individuellen Eigenschaften in der Gemeinschaft in gleicher Weise akzeptiert und angenommen werden.
— Participation: Alle Kinder sollen an gemeinsamen Aktivitäten und am gemeinsamen Unterricht mitmachen und teilhaben können.
— Achievement: Alle Kinder sollen im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten anspruchsvolle Lernziele erreichen, Leistungen erbringen und Fortschritte machen können.
Behindertenrechtskonvention
Heterogenität
Mit dem Begriff «Inklusion» verbindet man sehr verschiedene Anliegen an eine inklusive Schule. Die Ansprüche reichen von einem Recht auf gemeinsame Schulung und Betreuung (z. B. Behindertenrechtskonvention, 2008, SR 0.109) bis hin zu allgemeinen Forderungen nach umfassender Dekategorisierung (Behinderung gibt es nicht) und Abschaffung jeglicher Segregation in allen Bereichen der Gesellschaft (z. B. Hinz, 2009). Für die Schule als Praxis ist der Ansatz umfassender Dekategorisierung problematisch, weil er den spezifischen Blick auf das Individuum verhindert. Schule hat einen pädagogischen Auftrag; sie kann sich nicht damit begnügen, alle einfach so zu akzeptieren, wie sie im Moment sind, und sich über diese farbige Vielfalt zu freuen. Vielfalt (in der Literatur meist Heterogenität oder Diversity) muss «mehr sein als affirmative Bestätigung, dass ja ‹alles so schön bunt ist›» (Plösser, 2013, S. 61). Der pädagogische Auftrag in der Schule besteht ja gerade darin, gewisse Formen von Unterschiedlichkeit (genauer: Diversitätsdimensionen) nicht zu akzeptieren, sondern sie anzugleichen. Sie soll zum Beispiel nicht einfach akzeptieren, dass einige lesen können und andere nicht, sondern dafür sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler möglichst gut lesen lernen. Dafür müssen zunächst unterschiedliche Dimensionen der Diversität festgelegt werden. Für die schulische Praxis muss geklärt werden, welche Diversitätsdimensionen in welchen Situationen relevant sind, welche Bedeutung ihnen zukommt (und zukommen soll, was nicht unbedingt dasselbe ist) und wie die Schule auf die Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler in diesen einzelnen Dimensionen reagieren kann. Aus dieser Sicht ist es nicht falsch, beispielsweise ein Kind als hörbehindert zu kategorisieren. Im Gegenteil, es ist notwendig, diese Hörbehinderung und ihre Auswirkungen in der Schule möglichst genau zu bestimmen und geeignete Maßnahmen zu treffen, damit dieses Kind im Unterricht lernen kann und damit seine Teilhabe an der Gemeinschaft der Schule ermöglicht und unterstützt wird. Genauso wichtig, um ein zweites Beispiel zu nennen, ist etwa die Bestimmung einer Lese-/Rechtschreibstörung durch eine möglichst differenzierte Erfassung des Schriftspracherwerbs und die Planung und Durchführung geeigneter Fördermaßnahmen. Diese Förderplanung verfolgt das Ziel, dass dieses Kind an gemeinsamen Lernprozessen der Klassengemeinschaft teilhaben und dadurch für das eigene Lernen profitieren kann. Aus der gleichen Kategorisierung «Lese-/Rechtschreibstörung» wird sich jedoch vielleicht in einer Unterrichtssituation, in der an der mathematischen Problemstellung «Gesetzmäßigkeiten an verschiedenen Zahlenmauern untersuchen» (vgl. Hengartner et al., 2006) gearbeitet wird, kein besonderer Förderbedarf ergeben: Die Schülerin oder der Schüler kann in dieser Situation gut ohne spezifische Maßnahmen am Unterricht teilhaben und lernen. Unterschiedliche Situationen erfordern auch beim gleichen Individuum unterschiedliche Interventionen.
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