Hektor und Paris sahen ihm lange nach. Er hatte einen der mittleren Wege gewählt, weshalb Paris sich nach rechts wandte und die anderen beiden nach links. Im Untergrund verlor Odysseus bald jedes Zeitgefühl. Er orientierte sich eher am Hungergefühl in seinem Magen, der ihn mürrisch daran erinnerte, dass bald ein Mittagessen fällig sei. Nach schätzungsweise einer Stunde, in der er über breite Felsen gestakst war, kam Übelkeit in ihm hoch. Seit fast fünf Monaten hatte er sich nur von Rübeneintopf ernährt. Auf Dauer konnte so eine unfreiwillige und vegetarische Diät nur schiefgehen. Plötzlich blendete ihn ein Licht. Es war gleißend hell und doch kein Tageslicht. Tausende Kristalle schimmerten um ihn herum. Sie leuchteten und glitzerten in allen erdenklichen Farben. Mal verfärbten sich die Nuancen und Schattierungen, sobald man an ihnen vorbeiging, oder sie gaben klirrende Töne von sich. Odysseus musste an ein Glockenspiel denken, das leise klimperte. Er war so überwältigt von den vielfältigen Sinneswahrnehmungen, dass er einfach stehen blieb und staunte. So etwas hatte er noch nie gesehen. Und diesen Anblick würde er auch nicht so schnell wieder vergessen. Da hörte er auf einmal Stimmen. Sie kamen ihm bekannt vor, und augenblicklich wünschte er sich, er hätte lieber nichts vernommen. Es war gruselig. Wirklich unheimlich, als ob sie ihn verfolgen würden. Mit äußerster Vorsicht spähte er um die nächste Biegung, nur um dahinter seine schlimmsten Befürchtungen mehr als bestätigt zu sehen.
Der Weg mündete in eine weitere Höhle vom Ausmaß einer Basilika. Dort ragten viele kleinere Kristalle leuchtend aus dem Boden, sodass sie wie Fliesen aussahen. Eine steile Treppe führte auf ein Felsplateau. Darauf thronte ein mächtiges und steinernes Portal – zu dessen Fuße niemand anderes als König Minos saß. Vor ihm ging sein Schwager unruhig auf und ab. Derbe Wortfetzen von sich gebend fuchtelte er mit den Händen durch die Luft. „Aietes, jetzt entspann dich mal.“ – „Ich werde nicht zulassen, dass das Haus dieser Hurensöhne aus Ithaka weiterbesteht!“ Minos erhob sich. „Du musst mal lernen, gelassen zu bleiben. Wir haben ja alles unter Kontrolle. Mit diesem wertlosen Bauerntrampel werden wir uns später beschäftigen. Mir geht es einzig um das Amulett. Und darf ich dich daran erinnern, dass du sie alle hast entkommen lassen?“ Ein Schatten erschien auf seinem Gesicht. Nicht ohne Vorwurf fuhr er fort: „Tja, da hättest du besser aufpassen müssen, Idiot. Nun ist es zu spät. Diese korrupten Trojaner haben es in ihre dreckigen Hände bekommen, und was willst du dagegen tun?“ Da lächelte er den Drachenfürsten an. „Hier in diesen Stollen liegt die Lösung. Die höchsten magischen Errungenschaften werden hinter dieser Tür verwahrt. Folglich sind wir am Ziel. Sobald die Macht des olympischen Feuers auf uns übergegangen ist, hält uns niemand mehr auf. Diesen lästigen Abschaum fegen wir dann anschließend ganz nebenbei vom Spielfeld in die Vergessenheit.“ Minos ließ seinen Blick siegessicher durch die Halle schweifen. „Ich, liebster Schwager, habe versucht, mit meinen stärksten Sprüchen das Portal aufzubrechen, doch es will mir bislang nicht gelingen. Mir schwant, dass wir dafür doch das Amulett benötigen“, gab Aietes aalglatt zu. Verärgert sah Minos umher. „Wozu bist du eigentlich ein Zauberer?“, blaffte er den anderen an. „Dann beschaffe es mir gefälligst, und zwar schnell, wenn ich bitten darf. Ich schwöre, noch einmal so ein Versagen und ich lasse dich wegen Sabotage hinrichten, auch wenn ich hundertmal der Mann einer deiner verdorbenen Schwestern bin.“ Der Drachenfürst fletschte herausfordernd die Zähne. Wenn Minos unbedingt Streit suchte, konnte er ihn haben.
Odysseus lauschte so gebannt diesem interessanten Gespräch, dass er gar nicht merkte, wie Paris und Achilles neben ihm auftauchten. Sie sahen zu, wie Minos aufsprang und sein Kurzschwert zog. „Nun, mir scheint, dass es vielleicht gar nicht mal so weit entfernt ist.“
Er schnippte mit den Fingern, und ein riesiger Drache trat in Erscheinung. Seine Flügel waren so groß wie die Segel einer Jolle. Dann ein wütender Aufschrei, und eine Gestalt wurde von dem Lindwurm in den Saal geschleudert. Triumph zeigte sich bei den Anwesenden. „Mittwoch scheint wirklich mein Glückstag zu sein. Sieh an, was uns da ins Haus geflattert kommt, mein Amulett. Nein wirklich, Götter, das wäre doch nicht nötig gewesen!“ Aietes warf den Kopf in den Nacken und lachte voller Häme. „Wenn du es uns freiwillig gibst, verspreche ich, wenigstens deine garstige Brut am Leben zu lassen, Trojaner.“ Hektor erhob sich gequält auf die Knie. Er hustete und blickte finster zu den Feinden auf. „Das könnt ihr Verräter euch so was von abschminken. Wie kommt ihr zwei überhaupt dazu, eure eigenen Landsleute zu hintergehen und Forderungen zu stellen, widerwärtiges Griechenpack!“ –
„Sag mal, wie redest du eigentlich mit mir, dem angehenden Wächter der olympischen Flamme! Zeige uns Respekt, Sterblicher!“ Ein Schlag, dann ein paar Tritte, und er hatte den Brünetten am Hals gepackt. Mit einem schnellen Ruck riss er ihm das Amulett ab. „Die letzten Worte?“, säuselte er geradezu freundlich. Eine Hand vergrub sich in den dunklen Locken, die andere hielt das Schwert. „Du kannst mich mal, Aietes!“ Hektor riss seinerseits die Klinge aus dem Gürtel und stieß sie nach seinem Angreifer. Die Waffe bohrte sich durch dessen gesamten Unterarm zwischen Elle und Speiche hindurch. Dann sank er brüllend zu Boden, denn offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, fast aufgespießt zu werden. Im nächsten Moment herrschte das pure Chaos. Odysseus hatte die Gelegenheit genutzt, Paris seinen Bogen von den Schultern gezogen, und nun hagelten Pfeile auf Minos und Aietes nieder. Zuvor war er heimlich auf den gegenüberliegenden Felsvorsprung geklettert, um die Geschosse vorzubereiten. Die Bogensehne surrte in Sekundenschnelle, die Spitzen waren frisch geschliffen worden und bereit zu treffen. Auch Achilles blieb nicht untätig. Während Aietes und Hektor sich zu einem kreischenden und um sich tretenden Bündel verkeilten, nahm er sich den Drachen vor. Es war dasselbe Biest, das Telemachos entführt hatte. Mit einem gellenden Schrei, der Stein zermahlen konnte, stieß der Abgott nach dem Untier. Dieses hatte nicht mit einem Frontalangriff gerechnet und sandte einen Flammensturm los. Das war ein weiterer Moment, in dem Achill durchaus dankbar dafür war, unverwundbar zu sein. So geschah ihm nichts. Der Lindwurm, der nicht zu den intelligentesten Geschöpfen dieser Welt zählte, sah verwundert den Peliden auf ihn zu rennen. Dann war er hinüber. Der Blonde hatte ihm das Schwert durchs Auge ins Gehirn gerammt. „Eine Nervensäge weniger“, stellte er vergnügt fest. Hektor und Aietes kämpften immer noch erbittert gegeneinander. Der Zauberer trieb den Trojaner vor sich her, obgleich beiden ihre Waffen abhandengekommen waren. Notdürftig hatte er seine Wunde mit Magie versorgt und schlug nun mit einem Stein auf den Kopf des Rivalen ein. Doch es war gar nicht so einfach, den Brünetten lange unter sich am Boden festzuhalten. Dieser trat wild um sich, sodass es Aietes eine ganze Menge an Magie und Selbstbeherrschung kostete, den Mann ruhigzustellen. Hektor hielt das Amulett immer noch verkrampft in den Fingern, auf denen nun Blut glänzte. Da stand Achilles plötzlich hinter ihnen und zerrte den Drachenfürsten von ihm herunter. Schwer atmend rieb er sich den Hals und sah würgend zu den beiden Griechen. Der tödliche Hass schien die Luft zum Brodeln zu bringen. „Ha, du kommst zu spät, Sohn der Göttin!“, kreischte Aietes hysterisch. Und spätestens jetzt konnte man sich sicher sein, dass er das Land der Vernunft verlassen hatte.
„Jetzt krieg nicht gleich wieder einen Lachkrampf!“, spuckte der Blonde ihm entgegen.
„Nach deiner Meinung hat nun wirklich niemand gefragt!“, höhnte der andere und deutete nur auf das Portal. Ächzend öffneten sich seine Türen. Das Amulett steckte wie ein Schlüssel im Schloss. Aietes trat ein. Dahinter lag ein einziger Bergkristall, der das Licht der Sonne, des Mondes und der Sterne in sich vereinte. Mit gierigen und schmutzigen Händen griff er sich das hohe Gut. Er trat nach draußen und hielt es demonstrativ über sein Haupt. Odysseus nutzte diese einmalige Chance und legte an. Er war von dem Vorsprung gestürmt und stand nun am Fuß der Treppe. Neben ihm, völlig nutzlos und panisch, der junge Paris. Die Angst war ihm förmlich ins Gesicht gemeißelt, doch der Listenreiche ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Pragmatisch und gelassen schoss er mit seinem letzten Pfeil dem Drachenfürsten die begehrte Beute aus der Hand. Der Bergkristall zerschellte am Boden, und ein Schrei der Verzweiflung war zu hören. „Elendiger Bastard! Du vollkommen übergeschnappter und irregewordener Volltrottel! Wird der Kristall zerstört, wird die gesamte Magie auf einmal freigesetzt!“ Aietes schäumte vor Wut. Sein Kopf war hochrot und man musste befürchten, der Schlag würde ihn jeden Moment treffen. Doch zumindest seine Worte bewahrheiteten sich. Die Magie suchte sich ihre eigenen Wege, sich neu zu erfinden.
Читать дальше