Als für die Behaltensleistung förderlich erweist sich somit vor allem, wenn Lerninhalte „in beiden Systemen verarbeitet und somit doppelt kodiert werden“ (Haudeck 2008: 25).
2.5.3.4 Die Theorie der Embodied Cognition
Entgegen etablierten Ansichten der Kognitionswissenschaft (Kognitivismus, Computertionalismus1, in Teilen auch noch Dualismus, zu Letzterem vgl. Kap. 3.1), bei denen eine „zentrale Informationsverarbeitungseinheit, die als Verteilungsstation Daten verschiedener Sinnesmodalitäten“ (Hoffmann 2016: 161) empfängt, verarbeitet und abspeichert, wird von Vertretern verkörperter Kognition
ein modularisiertes Bild des bewusstseinsfähigen Organismus gezeichnet, in dem es keine zentrale Verarbeitungseinheit gibt, sondern eine Vielzahl sowohl mentaler als auch physischer Teilsysteme (Module), die in einem dynamischen Prozess einander wechselseitig beeinflussen und weiterentwickeln. (ebd.)
Somit sind Begriffe nicht abstrakt und unabhängig, sondern in den Sinnes- und motorischen Systemen des Gehirns abgespeichert und daher verkörpert . Auf die Theorie der Embodied Cognition wird in Kapitel 3.2 in Bezug auf das Lernen mit Bewegungen ( Embodied Learning ) u.a. in Verbindung zu Sprache vertieft eingegangen.
2.5.4 Neurobiologische Grundlagen des Gedächtnisses
Neuronen bilden die Grundlage von Nervensystemen. Sie bestehen aus drei Teilen, einem Zellkörper, den Dendriten und einem Axon und ermöglichen es, über große Entfernungen anhand elektrischer und chemischer Signale Informationen weiterzuleiten. Die Dendriten nehmen das Signal auf, der Zellkörper verrechnet es, es wird vom Axon weitergeleitet und von der Synapse an weitere Neuronen übermittelt. Da sich die Dendriten der Neuronen nicht berühren, werden die Signale an den Synapsen über den synaptischen Spalt weitergegeben. Durch starke elektrische Signale, die sogenannten Aktionspotentiale1, wird die Spannung in den Neuronen kurzfristig geändert, was die Ausschüttung von erregenden oder hemmenden Neurotransmittern zur Folge hat (vgl. Sambanis 2013: 11). Für das Lernen müssen nun Spuren im Gedächtnis ausgebildet werden. Eine Gedächtnisspur, auch Engramm genannt, wird als eine „von einem spezifischen Gedächtnisinhalt (Information) hervorgerufene, dauernde, strukturelle beziehungsweise elektrochemisch-physiologische Veränderung im Gehirn verstanden“ (Becker-Carus & Wendt 2017: 405) Dies geschieht nach der sogenannten Hebb’schen Regel2:
Die simultane oder leicht zeitverschobene Erregung von präsynaptischer und postsynaptischer Zelle führt nach mehrfacher und dauerhafter Paarung zu einer Stärkung der Verbindung zwischen ihnen. (ebd.: 406)
Shatz (1992: 64), Professorin für Neurobiologie in Kalifornien, formte aus dieser Erkenntnis den berühmten Satz „cells that fire together wire together“. Der Neurowissenschaftler und Psychiater Spitzer verwendet für solche Gedächtnisspuren häufig die Metapher einer Spur im Schnee, die durch wiederholten Gebrauch desselben Weges entsteht (vgl. Sambanis 2013: 14). Zunächst ist eine Gedächtnisspur jedoch noch fragil und wird erst durch eine Phase der Konsolidierung stabiler:
Experimentell ließ sich inzwischen nachweisen, dass jeweils zunächst eine auf bioelektrischen Grundlagen beruhende Erinnerungsspur angelegt wird, die dann durch Konsolidierung in stabile und erstaunlich widerstandsfähige Engramme umgewandelt wird. Grundlage der bioelektrischen Speicherung sind reverberatorische Erregungskreise3. (Becker-Carus & Wendt 2017: 405)
Gedächtnisspuren als „ Repräsentationen der Außenwelt“4 (Spitzer 2009: 12) können Handlungen und Ziele, aber auch Zusammenhänge und Werte beinhalten (vgl. ebd.: 13). „Die Gesamtheit aller Engramme – und es sind wahrscheinlich Milliarden – ergibt das Gedächtnis.“ (Gruber 2018: 95)5
2.5.5 Ursachen des Vergessens
Dem Behalten von Informationen steht das Vergessen gegenüber:
Behalten und Vergessen sind komplementäre Prozesse. Was nicht behalten wird, wird vergessen. Die Faktoren, die das Behalten positiv beeinflussen, beeinflussen das Vergessen negativ. (Dörner 1996: 174)
Als „Gegenpol zur Gedächtnisleistung“ (Kehrein 2013: 11) kann das Vergessen diverse Ursachen haben. Anhand der verschiedenen Gedächtnistheorien, aber auch neurowissenschaftlicher Vorgänge gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze, warum eine Information vergessen wird und somit auf diese kein Zugriff besteht. Platons Metapher der wächsernen Tafel entsprechend funktioniert das Erinnern nicht, wenn das Abbild auf der Tafel verwischt oder zu Beginn schon nicht genug Kraft hatte, sich einzuprägen, wobei beide von Platon gegebenen Erklärungen auch heute noch neben anderen Begründungen als Ursachen des Vergessens für möglich gehalten werden (vgl. Becker-Carus & Wendt 2017: 382).
Reinfried (2006: 182) sieht für das Vergessen aus neurowissenschaftlicher Sicht die neuronale Inaktivität als ausschlaggebend. Werden die entsprechenden Neuronen nicht häufig genug aktiviert, ist es möglich, dass gelernte Inhalte nicht mehr abrufbar sind:
Eine Information ist so lange nicht mehr aktiviert worden, dass die sie speichernden Neuronen an synaptischer ‚Regsamkeit‘ verloren haben. Zuerst sinkt der Zugriff auf diese Information unter einen kritischen Schwellenwert, der je nach aktueller körperlicher Verfassung schwankend ist, schließlich kann sich die ‚Gedächtnisspur‘ völlig auflösen. (ebd.)
Hierbei spielt der Faktor Zeit eine Rolle, da ohne Wiederholung des Lerninhalts „die Stärke einer Gedächtnisspur […] kontinuierlich mit der Zeit zerfällt, bis sich die Spur schließlich vollständig aufgelöst hat.“ (Stork 2003: 60) Jedoch geben Becker-Carus und Wendt (2017: 386) zu bedenken:
Experimentelle Belege gibt es für das Nichteinprägen und die Nichtzugänglichkeit von Informationen. Ein Zerfall von Informationen im Langzeitgedächtnis kann dagegen nicht experimentell belegt werden.
Eine weitere Erklärung für das Vergessen besagt, dass diejenigen „stützenden Assoziationen, die zu einer Information hinführen, verblassen. Der Zugang zur Information ist dadurch erschwert.“ (Reinfried 2006: 182). Dies geschieht, wenn nicht ausreichend geeignete Hinweisreize ( retrieval cues ) zur Verfügung stehen (vgl. Stork 2003: 60).
Zudem können Interferenzen (Überlagerungen) den Abruf von Gelerntem behindern, was „durch Ähnlichkeit zweier zu unterschiedlichen Zeitpunkten erlernten Informationen stark begünstigt“ wird (Reinfried 2006: 182). Auch emotionale Faktoren können von Bedeutung sein, dass etwas behalten oder vielleicht sogar absichtlich verdrängt wird (vgl. Becker-Carus & Wendt 2017: 382).
Denkbar ist gleichfalls, dass sich die gesuchte Information gar nicht erst oder nicht ausreichend eingeprägt hat und daher nicht abrufbar ist, was bedeutet, dass sie nach dem Mehrspeichermodell nicht vom Kurzzeitspeicher in den Langzeitspeicher überführt wurde. In Bezug auf den Kurzzeitspeicher wäre ebenso möglich, dass ältere Informationen ersetzt werden oder entfallen, um den begrenzten Platz des Arbeitsgedächtnisses wieder freizugeben. Bei der Theorie der Verarbeitungstiefe wäre ein Vergessen aufgrund einer mangelnden Tiefe der Verarbeitung denkbar, was bedeutet, dass der Inhalt eher auf flachen Ebenen verarbeitet wurde. Bekannt ist auch das Phänomen, dass eine Information nicht komplett verloren gegangen ist, sondern einem quasi „auf der Zunge liegt“, was der Theorie der Nichtabrufbarkeit zugehörig ist (vgl. Stork 2003: 60).
Nach Glanzer und Cunitz (1966) macht in einer Wortliste die Positionierung des zu lernenden Wortes übrigens einen Unterschied in der Behaltensleistung. Versuchspersonen wurden Wortlisten mit 20 bis 40 Items gegeben, welche auswendiggelernt und anschließend reproduziert werden sollten, wobei die Reihenfolge irrelevant war. Aus diesen Ergebnissen ergibt sich die sogenannte serielle Positionskurve, die aufzeigt, dass die ersten, vor allem aber die letzten Wörter der Liste am besten behalten werden, während die Begriffe in der Mitte der Liste nur wenig abrufbar waren. Die zuletzt gelernten Wörter sind deshalb so gut reproduzierbar, da sie zum Zeitpunkt des Abrufs noch im Kurzzeitgedächtnis gespeichert waren (Rezenzeffekt), während für die ersten Wörter verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit aufgebracht wurde (Primäreffekt) (vgl. Glowalla: 238f.). Informationen solcher Art können helfen, Vorgänge des Lernens und Vergessens zu verstehen und auf sie zu reagieren.
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