Die Kenntnis eines Wortes kann jedoch nicht nur in Kategorien, sondern ebenfalls in verschiedene Stufen unterteilt werden. Hierbei finden sich Stadienmodelle u.a. bei Cronbach (1942), Dale (1965), sowie bei Hatch und Brown (1995). Bei Letztgenannten erfolgt die Wortkenntnis in fünf verschiedenen Stufen:
1 der Begegnung mit dem neuen Wort,
2 dem Erhalten der Wortform,
3 dem Erhalten der Wortbedeutung,
4 dem Konsolidieren von Wortform und Wortbedeutung und
5 dem Gebrauch des Wortes (vgl. Stork 2003: 20).
Ebenso entwickelten Wesche und Paribakht (1996) ein Stufenmodell, jedoch kritisiert Haudeck (2008: 53) die linear erscheinende Progression des Modells, wobei Stillstand durch Fossilisierungen oder sogar Rückschritte aufgrund von Vergessen nicht beachtet werden und lobt das Mehrstadienmodell von Maera und Sanchez (1993), welches „empirischen Untersuchungen zufolge recht zuverlässige Voraussagen des individuellen Wortschatzzuwachses eines Zweitsprachenlerners erlaubt“ (Haudeck 2008: 53).
2.2.2 Rezeptives und produktives Wortwissen
Es erscheint nachvollziehbar, dass dem produktiven Gebrauch eines Wortes, sei es in schriftlicher oder mündlicher Form, ein rezeptiver vorangegangen sein muss. Zunächst muss ein Begriff gehört oder gelesen und im Idealfall verstanden worden sein, bevor es selbst ausgesprochen oder geschrieben werden kann, wobei sowohl rezeptiv als auch produktiv verschiedene Ausprägungen der Wortkenntnis vorhanden sein können.
Vocabulary knowledge can be viewed as a continuum starting with the ability to understand vaguely what a word means in a given context and ending with the free use of a word in expression. (Laufer 1991: 445)
Stork (2003: 19f.) mahnt bei der Betrachtung lexikalischer Kompetenz als Kontinuum, nicht zu vergessen, dass Wortkenntnisse nicht nur in eine Richtung fortschreiten, sondern ebenso das Vergessen und erneute Lernen von Wörtern möglich sind.
Laufer (1991: 446) sieht im L2-Erwerb Lehrkräfte in der Pflicht, den Lernenden auch solche Wörter im produktiven Gebrauch zu entlocken, die diese zu vermeiden suchen, um somit die Schwelle vom bloßen Verstehen zur aktiven Verwendung jener Wörter zu überschreiten:
If the tendency of L2 learners is to remain at the threshold level, it is the task of the teacher to elicit the above-threshold vocabulary, which is precisely the vocabulary that learners try to avoid. Whatever form this elicitation might take (asking for words with different shades of meaning, reformulating sentences, gap filling, translation from L1 to L2, etc.) its goal is to activate the vocabulary which may otherwise remain at the passive end of the vocabulary knowledge continuum. (ebd.)
Nation (2001: 28) weist darauf hin, dass allgemeinhin rezeptives Sprachenlernen sowie rezeptiver Sprachgebrauch als leichter angesehen werden als das produktive Äquivalent. Unter anderem nach Ellis und Beaton (1993) führt Nation (2001: 28f.) vier Gründe an, weshalb dies so empfunden wird:
1 amount of knowledge explanation :Für die Sprachproduktion in geschriebener oder gesprochener Form muss mehr Wissen vorhanden sein als beim rezeptiven Gebrauch. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Zielsprache ein anderes Zeichensystem verwendet als die Erstsprache. Hingegen wird für die rezeptive Verwendung häufig nur ein kleiner Teil der Wortkenntnis benötigt (vgl. ebd.).
2 practice explanation :Im gewöhnlichen Sprachenlernen kommt der rezeptive Gebrauch der Sprache häufiger zur Anwendung als der produktive (vgl. ebd.).
3 access explanation: In anfänglichen Sprachlernstadien hat das Wort in der Zielsprache nur eine einfache Verbindung zur Erstsprache. In der Erstsprache hingegen ruft ein Wort in Bezug auf die Sprachproduktion zahlreiche wetteifernde Assoziationen hervor, weswegen sich die Erinnerung des fremdsprachlichen Äquivalents für die Produktion schwerer gestaltet als für die Rezeption (vgl. ebd.).
4 motivation explanation: Eine Person verfügt womöglich über alle Informationen, um ein Wort produktiv zu verwenden, kennt dieses gut, setzt es aus verschiedenen Gründen aber nicht aktiv ein. Hierbei stellt er die Frage, ob ein solches Wort in diesem Fall zum produktiven Wortschatz der Person gezählt werden kann (vgl. ebd.: 30).1
Sämtliche Wörter einer Sprache lassen sich unter dem Terminus Wortschatz zusammenfassen.
Als Wortschatz wird das die Gesamtheit an Wörtern und Wendungen umfassende Teilsystem einer bestimmten Sprache bezeichnet. Die Sprachwissenschaft verwendet anstelle von Wortschatz den Begriff Lexik . Umgangssprachlich wird unter dem Wortschatz eines Individuums das ihm zur Verfügung stehende ‚geistige Wortinventar‘, quasi der ontogenetisch in seinem Gehirn aufgebauten Wortspeicher, der für lexikalische Sprachverarbeitungsprozesse benötigt wird, verstanden. (Haudeck 2008: 47)
Allerdings darf der Wortschatz einer Person nicht als statisches Inventar gesehen werden. Vielmehr wird er „als dynamisches System bezeichnet, weil der Erwerbsprozess nie zum Abschluss kommt“ (Maljuna 2013: 3).
Thaler (2012: 224) unterscheidet aus didaktischer Sicht vier Wortschatzklassen im mentalen Lexikon (vgl. Kap. 2.3.2): den produktiven, rezeptiven, potentiellen und individuellen Wortschatz. Während der produktive Wortschatz, mitunter auch aktiver Wortschatz genannt, jedwede Begriffe umfasst, die eine Person selbst benutzen kann, sind mit dem rezeptiven Wortschatz all jene Wörter gemeint, die die Person verstehen kann. Nicht selten wird der rezeptive Wortschatz auch als passiver Wortschatz bezeichnet. Dies ist jedoch irreführend, da das Verstehen von Wörtern keineswegs ohne eigene Beteiligung erfolgt und eine aktive Leistung erfordert (vgl. Nodari 2010: 1). Zudem gestalten sich die Grenzen zwischen produktivem und rezeptivem Wortschatz fließend. „Ein Wort kann vom rezeptiven zum produktiven Wortschatz wechseln und bei mangelndem Gebrauch aber wieder in den rezeptiven Wortschatz zurückfallen.“ (ebd.) Zum potentiellen Wortschatz gehören all jene Wörter, welche eine Person zwar bisher weder gesehen noch gehört hat, die sie aber „dennoch verstehen und/oder verwenden kann (z. B. durch Weltwissen, Wortbildungskenntnisse, Vergleiche mit anderen Sprachen)“ (Thaler 2012: 224). Für Begriffe aus dem potentiellen Wortschatz gilt für die fremdsprachliche Wortschatzaneignung dank der Vermutung, dass solche Begriffe
aufgrund von binnensprachlichen Ableitungen sowie von zwischensprachlichen Wortverwandtschaften von den Schülern eigenständig erschlossen werden können, so dass der Lernaufwand für den rezeptiven Sprachgebrauch entfällt und für den aktiven Sprachgebrauch stark verringert wird. (Reinfried 2006: 175)
Alle Wörter, die einem Menschen persönlich und damit individuell zur Verfügung stehen, können als individueller Wortschatz bezeichnet werden (vgl. Thaler 2012: 224).
2.3.2 Wortschatz und Grammatik
Ein kurzer Exkurs zur Verbindung von Wortschatz und Grammatik soll an dieser Stelle erfolgen, da sich in der Perspektive, welchen Wert das eine im Vergleich zum anderen für das Sprachenlernen aufweist, in den vergangenen Jahrzehnten eine große Wende vollzogen hat. Wenngleich der Grammatik nach der bis ins 20. Jahrhundert angewendeten Grammatik-Übersetzungsmethode im Anschluss eher eine dienende Funktion beikommen sollte (vgl. Thaler 2012: 236), wird der Übergang zwischen Grammatik und Wortschatz inzwischen zunehmend als fließend erachtet (vgl. Neveling 2017: 378). „Vocabulary and grammar are not separate categories, but are inextricably linked. Separating them creates confusion not clarity.“ (Lewis 2005: 8) In seinem Ansatz des Lexical Approach stellt Lewis (1993) beide Kategorien als miteinander verbunden dar. Thaler (2012: 226) leitet daraus für den Fremdsprachenunterricht ab, „dass Wörter nicht als isolierte Einzelwörter, sondern in einem grammatischen Umfeld vermittelt werden sollten, in sogenannten chunks “. Der Sinn eines fließenden Übergangs von Wortschatz und Grammatik findet sich dadurch begründet, dass „die morpho-syntaktischen Informationen im […] mentalen Lexikon zusammen mit der Wortform gespeichert sind“ (Neveling 2017: 378).
Читать дальше