[1]
Goertz 2019, S. 54.
[2]
Ebd.
[3]
White 1992, S. 79-103; Goertz 2017g, S. 219-225.
[4]
Bakker 2006.
[5]
Borum 2011, S. 7-36; Goertz/Holst 2016, S. 450-463.
[6]
Ebd.; Goertz 2017g, S. 219-225.
[7]
Ebd.
[8]
Ebd.
[9]
Ebd.; Wright 2007.
[10]
Ebd.
[11]
Ebd.; Paloutzian/Richardson/Rambo 1999.
[12]
Ebd.; Borum 2011.
[13]
https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/schlaglicht/schlaglicht-2016-05-psychologischeerklaerungsansaetze-jihadisten; 2.1.2021; Goertz 2017d, S. 54-62.
[14]
Goertz 2019, S. 56.
[15]
Ebd.
[16]
Goertz 2019, S. 57.
[17]
Ebd.
[18]
Ebd.; BSI 2016.
[19]
https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/schlaglicht/schlaglicht-2016-09-radikalisierung-von-muslimischen-migranten; 2.1.2021.
[20]
Ebd.
[21]
Ebd.
[22]
Ebd.
[23]
Ebd.
2.2.1 Charismatische Prediger als Radikalisierungsfaktor
Die für eine islamistische bzw. jihadistische Radikalisierung entscheidenden Inhalte sind sowohl in der realen Welt als auch in der virtuellen Welt zu verorten. Wesentliche, bisher von der sozialwissenschaftlichen Radikalisierungsforschung – vor allem von der deutschsprachigen – vernachlässigte Akteure und Transporteure der islamistischen und jihadistischen Ideologie sind dabei charismatische Prediger, mit oder ohne formelle islamisch-theologische Ausbildung. Verschiedene aktuelle englischsprachige Studien kommen zum Schluss, dass charismatische Prediger sowohl eine entscheidende Rolle als Radikalisierungsfaktor spielen als auch auslösender Faktor ( trigger ) sein können.[1] Eine Radikalisierungsstudie des niederländischen Innenministeriums verweist auf die „verheerenden Effekte“, welche die islamistisch-jihadistischen Prediger Sheikh Abdullah Al Fasal Omar Bakri Mohammed, Abu Hamza Al Masri, Abu Qatada und Sheikh Anwar Al Awlaki auf sich radikalisierende Individuen hatten.[2] Auf der Suche nach der Frage, wie charismatische Prediger einen Radikalisierungsprozess auslösen können, entwickelte die aktuelle Studie von Hofmann eine theoretische Struktur von Charisma, die Grundlage dieses Unterkapitels ist.[3]
Einleitend muss festgestellt werden, dass charismatischer Prediger – mit oder ohne formelle islamisch-theologische Ausbildung – das Bindeglied zwischen den beiden Radikalisierungsfaktoren islamistische Ideologie und islamistische Milieus sind (Unterkapitel 2.1 und 2.2).
Die Rolle von charismatischen Führungspersönlichkeiten für religiöse und/oder politische Bewegungen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Englischsprachige Autoren wie Gendron sowie Springer , Regens und Edger allerdings verweisen darauf, dass muslimisch geprägte Gesellschaften sowohl anfälliger für eine Fusion von Religion und Politik als auch den Einfluss von charismatischen Führern bzw. Predigern seien.[4] Lewis beweist empirisch, dass vom Islam geprägte Gesellschaften es über Jahrzehnte bis Jahrhunderte versäumt haben, in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und industrieller Entwicklung mit westlichen, demokratischen Staaten zu konkurrieren.[5] Vor allem, aber nicht nur islamistische Ideologen und Prediger predigen in Zeiten großer gesellschaftlicher Veränderungen, Krisen und Kriege die Wiederherstellung der glorreichen islamischen Vergangenheit als Ausweg in eine bessere Zukunft.[6] Um das Versagen des Islam, Wohlstand und zivilgesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten zu generieren, zu erklären, interpretieren islamistische Prediger regionale und weltweite Ereignisse als Verschwörung „des Westens gegen die weltweite muslimische Gemeinschaft ( umma )“, wie folgendes Zitat zeigt:
This is a war against Islam. It is a war against Muslims and Islam. Not only is it happening worldwide, but it is happening right here in America, that is claiming to be fighting this war for the sake of freedom while it’s infringing on the freedom of its own citizens, just because they’re Muslims. (Anwar Al Awlaki, in der Dar Al Hijrah Moschee in Washington, USA, am 22.3.2002).[7]
Als Reaktion auf eine subjektiv wahrgenommene Aggression „feindlicher Akteure“ rechtfertigen islamistische Prediger die Notwendigkeit von Gewalt und des militanten Jihad als legitime (defensive) Mittel.[8]
Die wesentlichen Funktionen charismatischer Prediger im Kontext dieses Unterkapitels sind (1) das Erreichen potenzieller Sympathisanten und Aktivisten (Unterstützer, Planer, Täter) für ihre jeweilige Ideologie und (2) die Radikalisierung für die islamistische und/oder jihadistische Ideologie. Dabei können diese Sympathisanten und Aktivisten sowohl den gleichen kulturellen und sprachlichen Hintergrund wie der charismatische Prediger selbst haben als auch unterschiedliche kulturelle und sprachliche Hintergründe. Gerade die islamistischen Prediger, die Sympathisanten in der westlichen Welt zu erreichen versuchen, die nicht oder kaum Arabisch sprechen und nur wenig islamisch-theologisches Wissen haben, müssen im Sinne einer Zielgruppenanalyse möglichst viel über die persönlichen und sozialen Probleme ihrer potenziellen Sympathisanten und Aktivisten wissen und nutzen gleichzeitig auch das in der Regel nur gering ausgebildete islamisch-theologische Wissen aus.[9]
In einer ersten Phase des Erreichens potenzieller Sympathisanten und Aktivisten sind bekannte Narrative wie „die muslimische Welt wird vom Westen unterdrückt“, „die Palästinenser werden von Israel, den USA und der westlichen Welt unterdrückt“, „die muslimische Welt hat den wahren, reinen Glauben verloren und ein wahrer, reiner Glaube an die Worte und Taten Mohammeds und seiner Gefährten muss wiederhergestellt werden“, etc. taktisch hilfreich, wobei diese Narrative ab einem gewissen Zeitpunkt konkreter und näher an der Lebenswirklichkeit der Zielgruppe – zum Beispiel in westlichen Großstädten wie Paris, Berlin, London – sein müssen. Sozialwissenschaftlich kann festgestellt werden, dass Viktimisierungsnarrative historisch von sehr vielen gewalttätigen extremistischen Gruppen bzw. Bewegungen für ihre politisch-ideologische Agenda genutzt wurden und werden.[10]
Charismatische Prediger nutzen in ihrer Funktion als islamische Theologen – entweder formell oder informell ausgebildet – wortwörtliche Auslegungen von Koran und Hadithen, um daraus Moral und Legitimität abzuleiten. Fundamentalistische Auslegungen dem Literalsinn nach von Korantexten, die über 1.000 Jahre alt sind, auf die Lebenswirklichkeit von potenziellen Islamisten und Jihadisten im 21. Jahrhundert zu übertragen, schafft sowohl Probleme als auch manipulative Chancen für den charismatischen Prediger. Moralische Zweifel der potenziellen Islamisten und Jihadisten müssen rhetorisch und inhaltlich überwunden werden, Dualismen, Dichotomien („wahre Muslime gegen die Ungläubigen, bzw. die vom Glauben Abgefallenen“) müssen etabliert werden.
Dazu folgen charismatische Prediger der Strategie des religiös-politischen Exklusivitätsanspruches, der danach strebt, auf verschiedenen Ebenen potenzielle Anhänger und potenzielle Attentäter möglichst total einzunehmen. Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert, offensives, öffentliches Missionieren gehört zu den Aufgaben. Im Rahmen der Teilnahme an (islamistischen, salafistischen) „Islamseminaren“ wird der Prozess der Indoktrinierung und weiteren Radikalisierung von charismatischen Predigern und Führungspersönlichkeiten und der Peergroup gefördert und vorangetrieben. Neben den „Islamseminaren“ werden auch sog. „Benefizveranstaltungen“, also Spendensammelaktionen für „Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Not“, für die Verfestigung der Ideologie genutzt, indem der Glaube durch die helfende Tat „gelebt“ und die sozialen Strukturen des salafistischen Milieus weiter vernetzt werden. An den oben aufgeführten Orten wird u.a. eine zunehmende Fixierung auf das Jenseits propagiert, wodurch das eigene, irdische Leben von sekundärer Bedeutung wird, was die letzten Schritte auf einem Radikalisierungsweg zur Tat, sprich: zu einem Anschlag, bedeuten kann.[11]
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