113
Die Weigerung eines Mitgliedstaates, an einer nicht bereits in den Verträgen selbst angelegten Weiterentwicklung der Union mitzuwirken, kann keinesfalls einen Ausschlussgrund darstellen. Denn Art. 48 EUV bestimmt, dass Änderungen der Verträge des Einvernehmens aller Mitgliedstaaten bedürfen. Schwierigkeiten bei der Ratifikation, die hinsichtlich der Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon auftraten und den Verfassungsvertrag zum Scheitern brachten (s. Rn 59), müssen letztlich politisch bewältigt werden (vgl auch Art. 48 Abs. 5 EUV).
Literatur:
von Bogdandy, A./Sonnevend, P. (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area. Theory, Law and Politics in Hungary and Romania, 2015; Giegerich, T. , Die Unabhängigkeit der Gerichte als Strukturvorgabe der Unionsverfassung und ihr effektiver Schutz vor autoritären Versuchungen in den Mitgliedstaaten, ZEuS 2019, 61; Hatje, A,/Tichý, L. (Hrsg.), Liability of member states for the violation of fundamental values of the European Union, EuR Beiheft 1/2018; Huber, P.M. , Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389; Hummer, W./Obwexer, W ., Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze“ der EU, EuZW 2000, 485; Kadelbach, S. (Hrsg.), Verfassungskrisen in der Europäischen Union, 2017; Schmahl, S ., Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Kabinett – Eine europa- und völkerrechtliche Analyse, EuR 2000, 819; Schorkopf, F ., Homogenität in der Europäischen Union – Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, 2000; Stein, T ., Die rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten der Europäischen Union bei schwerwiegender und anhaltender Verletzung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze in einem Mitgliedstaat, in: FS Jaenicke, 1998, S. 873 ff.
§ 3 Grundlagen der Europäischen Union› III. Räumlicher Geltungsbereich › 3. Spezielle Gebietsteile der Mitgliedstaaten
3. Spezielle Gebietsteile der Mitgliedstaaten
114
Art. 52 Abs. 1 EUV verweist hinsichtlich des räumlichen Geltungsbereichs des Unionsrechts lediglich auf die Mitgliedstaaten und ihre Gebiete, nimmt ansonsten aber keine Abgrenzung vor. Aus diesem Grunde muss die Zugehörigkeit spezieller Gebietsteile zum räumlichen Geltungsbereich nach allgemeinen völkerrechtlichen Kriterien[49] vorgenommen werden.
115
In den Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten gilt das Unionsrecht wie auf dem Festland. Besitzen die Mitgliedstaaten Nutzungsrechte außerhalb ihrer Hoheitsbereiche, sind sie ebenfalls an das Unionsrecht gebunden, insbesondere an die Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV (Loyalitätspflicht gegenüber der Union, s. Rn 170 ff) und Art. 18 AEUV (Diskriminierungsverbot im Anwendungsbereich der Verträge). Bedeutsam ist die Geltung der Vorschriften über die Freizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit (s. Rn 939 ff, 951 ff, 958 ff) auf dem Festlandsockel. Die übrigen Bestimmungen des primären und sekundären Unionsrechts gelten in dem Umfang, in dem sie sachlich anwendbar sind (vgl dazu zB Art. 3 VO 2913/92 – Zollkodex – betreffend das Zollgebiet der Gemeinschaft, s. Rn 824).
116
Hinsichtlich der Fischerei wurde von den Mitgliedstaaten auf Grund eines Vorschlages der EG in einer konzertierten Aktion mit Wirkung vom 1.1.1977 für die Nordsee und den Nordatlantik eine 200-Seemeilenzone als ausschließliche Wirtschaftszone in Anspruch genommen (völkergewohnheitsrechtlich zulässig, vgl auch Art. 55–57 des am 16.11.1994 in Kraft getretenen VN-Seerechtsübereinkommens vom 10.12.1982[50], das die EG und alle 28 Mitgliedstaaten ratifiziert haben). Für das Mittelmeer besteht noch keine Fischereizone der Union, in der Ostsee nehmen die Bundesrepublik Deutschland und Dänemark seit dem 1.1.1978, ferner Finnland und Schweden ausschließliche Fischereizonen in Anspruch. Zur Fischereipolitik der EU s. Rn 1235 ff.
117
Im Luftraum über dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gilt das Unionsrecht in vollem Umfang.
Literatur:
Graf Vitzthum, W ., Europäisches Seerecht, in: FS Badura, 2004, S. 1189 ff.
§ 3 Grundlagen der Europäischen Union› III. Räumlicher Geltungsbereich › 4. Teile von Mitgliedstaaten mit eigener Rechtspersönlichkeit
4. Teile von Mitgliedstaaten mit eigener Rechtspersönlichkeit
118
Vertragspartner der Gründungsverträge ist jeweils der Zentralstaat. Damit werden auch Teile von Mitgliedstaaten mit eigener Rechtspersönlichkeit eingebunden. Der Zentralstaat kann sich nicht durch Verweis auf innerstaatliches Verfassungsrecht seinen unionsrechtlichen Pflichten entziehen. Dies entspricht mangels gegenteiliger Bundesstaatsklausel einer allgemeinen Regel des Völkerrechts[51]. Wegen Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 291 Abs. 1 AEUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Vollzug des Unionsrechts auf allen Ebenen der Staatlichkeit wirksam durchzusetzen. Dies erfordert entsprechende verfassungsrechtliche Vorkehrungen.
119
Zu den Problemen des Verhältnisses der Europäischen Union zu Teilen von Mitgliedstaaten mit eigener Rechtspersönlichkeit s. Rn 181 ff.
§ 3 Grundlagen der Europäischen Union› III. Räumlicher Geltungsbereich › 5. So genannte extraterritoriale Wirkungen des Unionsrechts
5. So genannte extraterritoriale Wirkungen des Unionsrechts
120
Echte extraterritoriale Wirkungen entfaltet das Unionsrecht dann, wenn es seinen Geltungsanspruch auf außerhalb des Unionsgebietes ansässige natürliche oder juristische Personen erhebt. Davon können sog. unechte extraterritoriale Wirkungen unterschieden werden. Hier nimmt das Unionsrecht lediglich außerhalb des Unionsgebietes vorgenommene Handlungen zum Anknüpfungspunkt für Regelungen, die innerunional gelten. Der Begriff hat gleichwohl auch hier seine Berechtigung, da diese Regelungen ihrerseits auf Drittstaaten und deren Angehörige Wirkungen entfalten können.
a) Unechte extraterritoriale Wirkungen
121
Ein Beispiel für diese Fallgruppe ist die Anwendung der Antidumpingverordnung (VO 1225/2009)[52], der Antisubventionsverordnung (VO 597/2009)[53] und des „Neuen handelspolitischen Instruments“ (Handelshemmnisverordnung, VO 3286/94)[54]. Erstere erlauben als Reaktion auf bestimmte Dumping- oder Subventionsmaßnahmen in Drittstaaten die Festsetzung von Ausgleichszöllen. Letzteres gestattet bei sonstigen unerlaubten Handelspraktiken die Ausübung der Rechte, auf die die EU sich im internationalen Handel auf Grund der Regeln des Völkerrechts oder der allgemein anerkannten Regeln berufen kann (Art. 2 Abs. 2 VO 3286/94). Allein die Einleitung des vorgeschalteten förmlichen Untersuchungsverfahrens hat oft schon disziplinierende Wirkung. Die Einleitung beider Verfahren kann von den betroffenen Wirtschaftszweigen bei der Kommission beantragt werden. S. auch Rn 1306 f.
b) Echte extraterritoriale Wirkungen
122
Diese betreffen die Anwendung der Wettbewerbsregeln der Art. 101, 102 AEUV auf Unternehmen, die ihren Sitz außerhalb der EU haben, wenn deren Verhaltensweisen auf dem Markt der EU wettbewerbsverzerrende Wirkungen haben. Da auch das Unionsrecht grundsätzlich dem im allgemeinen Völkerrecht anerkannten Territorialitätsprinzip unterliegt, wonach die Vornahme von Hoheitsakten auf der Grundlage einer bestimmten Rechtsordnung regelmäßig auf den räumlichen Geltungsbereich dieser Ordnung begrenzt ist, bedürfen solche Maßnahmen einer besonderen Rechtfertigung. Sie spielen im Wettbewerbsrecht eine große Rolle, da ohne sie jede Wettbewerbspolitik angesichts der gegenwärtigen weltweiten Wirtschaftsverflechtungen weitgehend ineffektiv wäre.
Читать дальше