104
Da sich Art. 52 EUV auf den der EU angehörenden Mitgliedstaat bezieht, müsste ein sich aus diesem durch Sezession lösender Staat (zB Schottland, wenn das vom Gesamtstaat Vereinigtes Königreich zugelassene Referendum erfolgreich gewesen wäre; Katalonien, wenn es sich erfolgreich von Spanien lösen könnte) die Mitgliedschaft in der EU gemäß Art. 49 EUV beantragen. Danach müsste aber der Mitgliedstaat, von dem die Sezession erfolgte, im Rat zustimmen und das Beitrittsabkommen ratifizieren.
105
Größere Gebietsveränderungen können zu Anpassungsmaßnahmen Anlass geben, die gemäß Art. 48 EUV, aber auch, wie das Beispiel der Eingliederung der DDR zeigt, durch sekundäres Unionsrecht (wie in der Regel bei kleineren Anpassungsmaßnahmen) vorgenommen werden können.
106
In der Vergangenheit hat es eine Reihe von mitgliedstaatlichen Gebietsveränderungengegeben, durch die das Unionsgebiet teilweise erweitert (St. Pierre-et-Miquelon, DDR)[33], teilweise verkleinert wurde (Algerien, Niederländische Antillen, Grönland)[34].
107
Bis zur ausdrücklichen Regelung des einseitigen, rechtlich geordneten Austritts aus der EU im Vertrag von Lissabon (Art. 50 EUV) war die Frage, ob ein Mitgliedstaat aus der EU austreten kann, umstritten. Die Gemeinschaftsverträge enthielten dazu keine Bestimmungen. Daraus und aus der Geltung des Vertrags „auf unbegrenzte Zeit“ (Art. 53 EUV) wurde gefolgert, dass ein Austritt oder die Kündigung durch einen Mitgliedstaat ausgeschlossen ist (vgl Art. 56 Abs. 1 WVRK). Dies konnte natürlich einen faktischen Austritt oder eine Kündigung nicht verhindern. Das BVerfG hat im Maastricht-Urteil ein Austrittsrecht aus der Gemeinschaft als Ultima Ratio (beim Scheitern der „Stabilitätsgemeinschaft“ Währungsunion) angenommen[35].
108
Die aus dem allgemeinen Völkerrecht hergeleiteten rechtlichen Möglichkeiten eines Austritts[36] sind durch Art. 50 EUV als lex specialis mit konkreten Vorgaben verdrängt. Als Regelfall ist der Abschluss eines Abkommens zwischen dem austrittswilligen Staat und der EU vorgesehen (Art. 50 Abs. 2 EUV). Kommt dieses nicht zustande und wird die Zweijahresfrist des Art. 50 Abs. 3 EUV nach Abgabe der Austrittsabsichtserklärung nicht auf Wunsch des Austrittskandidaten durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates verlängert, endet die Mitgliedschaft ohne Anschlussregelung und die Beziehungen zur EU bestimmen sich nach allgemeinem Völkerrecht. Dies bestätigt, dass der Austritt unionsrechtlich ein einseitiges Recht ist und nicht begründet werden muss. Die Austrittsabsichtserklärung kann vor Wirksamwerden des Austritts widerrufen werden[37]. Falls ein ausgetretener Staat der EU wieder beitreten möchte, muss er das Aufnahmeverfahren gemäß Art. 49 EUV durchlaufen (Art. 50 Abs. 5 EUV). Art. 50 Abs. 1 EUV verweist auf den Einklang mit den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Art. 23 Abs. 1 GG schließt einen Austritt Deutschlands aus der EU nicht völlig aus[38], setzt einem solchen Schritt aber verfassungsrechtliche Grenzen[39].
109
Aufgrund des nicht obligatorischen und rechtlich nicht verbindlichen, aber als politisch bindend gesehenen Referendums vom 23.6.2016 hat die Regierung des Vereinigten Königreichs am 29.3.2017 die Absicht erklärt, aus der EU austreten zu wollen. Zwischen der britischen Regierung und der EU wurde am 14.11.2018 ein Austrittsabkommen vereinbart[40], das jedoch vom britischen Parlament (Unterhaus), dessen Zustimmung nach britischem Verfassungsrecht erforderlich ist[41], mehrfach abgelehnt wurde. Um einen ungeregelten „Brexit“ zu verhindern, wurde die Frist bis 31.10.2019 verlängert[42]. Daher nahm das Vereinigte Königreich als Noch-Mitgliedstaat am 23.5.2019 an den Europawahlen teil.
Literatur:
Craig, P. , Brexit: A Drama in Six Acts, ELRev 2016, 447; Gold , M.-T ., Voraussetzungen des freiwilligen Austritts aus der Union nach Art. I-60 Verfassungsvertrag, in: Niedobitek/Ruth, Die neue Union, 2007, 55; Grumbach, S. , „Splendid Isolation?“, Der Austritt aus der Europäischen Union gemäß Artikel 50 EUV. Ablauf und Konsequenzen des Austritts eines Mitgliedstaates auf Ebene der EU, 2018; Hanschel, D. , Der Rechtsrahmen für den Beitritt, Austritt und Ausschluss zu bzw aus der Europäischen Union und der Währungsunion, NVwZ 2012, 995; Jaekel, N.A. , Das Recht des Austritts aus der Europäischen Union – zugleich zur Neuregelung des Austrittsrechts gem. Art. 50 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon, JURA 2010, 87; Kramme/Baldus/Schmidt-Kessel (Hrsg.), Brexit. Privat- und wirtschaftsrechtliche Folgen, 2. Aufl. 2019; Michl, W. , Die formellen Voraussetzungen für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, NVwZ 2016, 1365; Schroeder, W. , Austritt und andere Formen des Ausscheidens aus der EU, JRP 2016, 287; Skouris, V. , Brexit: Rechtliche Vorgaben für den Austritt aus der EU, EuZW 2016, 806; Thiele, A. , Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, 281.
110
Die Verträge enthalten auch keine Bestimmungen über den Ausschluss eines Mitgliedstaates. Ein Ausschlusstatbestand darf auch nicht an den Verträgen vorbei geschaffen werden. Nach allgemeinem Völkerrecht besteht aber eine Ausschlussmöglichkeit gemäß der clausula rebus sic stantibus (Art. 62 WVRK) bei einer grundlegenden Änderung der bei Vertragsschluss gegebenen Umstände oder gemäß Art. 60 Abs. 2 WVRK bei erheblichen Vertragsverletzungen.
111
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Art. 7 EUV bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat ein Suspendierungsverfahren hinsichtlich bestimmter Rechte vorsieht[43]. Dies ist als abschließende Regelung gedacht, die den Staat insbesondere durch die Aussetzung von Rechten, insbesondere der Stimmrechte des Vertreters der Regierung im Rat treffen möchte, wobei natürliche und juristische Personen möglichst geschont werden sollen (Art. 7 Abs. 3 EUV; zur Berechnung der qualifizierten Mehrheit danach s. Art. 7 Abs. 5 EUV iVm Art. 354 AEUV). Erst wenn sich dieses Verfahren als dauerhaft unzulänglich erweisen sollte und unerträgliche Zustände eintreten, wäre an einen Ausschluss zu denken. Die Kommission hat nach einer Analyse der Lage weitere mögliche Schritte in die Diskussion eingebracht[44] und jüngst Vorschläge für einen Universal Rule-of-Law Mechanismus präsentiert[45].
112
Als wegen der Gefährdung der Werte der Union in Polen (Unabhängigkeit der Gerichte) und Ungarn (Unabhängigkeit der Gerichte und Medien), jüngst Rumänien (Behinderung der Korruptionsbekämpfung durch involvierte Regierung) Art. 7 EUV aktiviert werden sollte, hat sich gezeigt, dass dieses Verfahren wegen Blockademöglichkeiten ineffektiv ist. Zwar ist der betroffene Staat gemäß Art. 7 EUV iVm Art. 354 Abs. 1 und 2 AEUV ausgeschlossen und die stärkste Sanktion der Aussetzung von Rechten kann vom Rat mit der gemäß Art. 354 AEUV modifizierten qualifizierten Mehrheit beschlossen werden (Art. 7 Abs. 3 S. 1 EUV). Dies setzt aber die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV voraus, die der Europäische Rat einstimmig treffen muss. Versichern sich zwei Mitgliedstaaten, wie zwischen den Regierungen von Polen und Ungarn geschehen, gegenseitig der Blockade eines solchen Beschlusses, käme nur das gleichzeitige Vorgehen gegen beide mit der Folge des Art. 354 Abs. 1 S. 1 AEUV in Betracht, dessen Zulässigkeit zweifelhaft ist. Daher hat die EU-Kommission versucht, Konflikte durch einen sog. Rechtsstaatsdialog zu entschärfen[46]. Als Rechtsgrundlage dafür wäre allenfalls ein „Minus“ zu Art. 7 EUV denkbar. Da sich auch dies als nicht zielführend zeigte, suchte die Kommission geeignete Ansatzpunkte für Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV. Dieser Weg zeigte bereits Erfolge. So befolgte Polen die einstweilige Anordnung des EuGH zur Wiedereinsetzung der durch Herabsetzung der Altersgrenze aus dem Amt entfernten Richter des Obersten Gerichts Polens[47]. Dabei folgte der EuGH dem Vorbringen der EU-Kommission, die sich auf die grundlegenden jüngsten Urteile des EuGH zur Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für die Rechtsstaatlichkeit[48], die als gemeinsamer Wert (Art. 2 EUV) der EU als „Rechtsunion“ nicht nur hinsichtlich des EuGH, sondern auch der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleistet sein muss (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV iVm Art. 47 GRCh).
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