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2. Nach dem Zweiten Weltkrieg
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Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges hatte eine grundlegende Änderung der Kräfteverhältnisse in Europa zur Folge. Die eigentlichen Sieger waren die USA und die Sowjetunion. Auf Grund ihrer militärischen Überlegenheit beanspruchten sie, über die Teilung Deutschlands und das weitere Schicksal Europas zu entscheiden. Geschwächt durch den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg büßten die europäischen Großmächte ihre weltpolitische Vormachtstellung ein. Nicht nur Deutschland, ganz Europa war der wirkliche Verlierer des Zweiten Weltkrieges. Den europäischen Staaten stellten sich folglich zwei Aufgaben: kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern und gemeinsam den politischen Einfluss in der Welt wiederzuerlangen.
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Auf privater Ebene überdauerte die Paneuropäische Bewegung die durch die Machtergreifung Hitlers und den Zweiten Weltkrieg entstandene Zäsur und mündete in die europäischen Einigungsbewegungen der Nachkriegszeit ein (Europa-Union in den einzelnen Staaten, Europäische Union der Föderalisten, Europäische Parlamentarierunion, Europäische Bewegung – seit 1948 die maßgebliche Dachorganisation für die verschiedenen Europaverbände). Als politischer Anstoß für eine Einigung Europas wird häufig die Zürcher Rede Winston Churchills vom 19. September 1946 zu einer „Neugründung der Europäischen Familie“ genannt. Churchill erkannte richtig das Erfordernis einer Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich, sah Großbritannien aber – vielleicht weil er das Ende seiner Weltmachtposition noch nicht klar erkannte – noch in einer besonderen Rolle als „Freund und Förderer“ wie die USA. Zu den Gründen Wiederaufbau, Überwindung der totalitären Ideologien Faschismus/Nationalsozialismus und Wiedergewinnung einer eigenständigen Bedeutung kam als neuer Faktor der sich bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg abzeichnende Ost-West-Konflikt hinzu, der dazu führte, dass die Verwirklichung der Europapläne in West- und Osteuropa getrennt verlief, der aber zugleich die westeuropäische Integration durch ein gemeinsames Abwehrziel förderte.
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Von den westeuropäischen Zusammenschlüssen sind im allgemeinpolitischen Bereich der Europarat mit dem Rechtsschutzsystem der EMRK (s. Rn 79 ff), im militärischen Bereich die Westeuropäische Union (WEU)[3], der Nordatlantikpakt (NATO)[4] und die gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sowie im wirtschaftlichen Bereich die Organisation für Europäische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), seit 1960 Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)[5], die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) und schließlich die Europäischen Gemeinschaften zu nennen.
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In Osteuropa wurden als Militärbündnis der Warschauer Pakt, als wirtschaftliche Organisationen der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RgW, COMECON) sowie eine Anzahl von speziellen, dem planwirtschaftlichen System entsprechenden Organisationen gegründet. Als einzige systemübergreifende Einrichtung bestand seit 1975 der Mechanismus der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die seit 1.1.1995 in „Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) umbenannt ist[6]. Die Umwälzungen des Jahres 1990 haben zur Auflösung der osteuropäischen Organisationen geführt, während die OSZE eine gesamteuropäische Perspektive eröffnen sollte (s. Rn 74 f, 82 ff).
Literatur:
Böttcher, W . (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, 2014; Davies, N ., Europe. A History, 1996; Isensee, J ., Europa – die politische Erfindung eines Erdteils, in: ders ., Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 2. Aufl. 1994; Kadelbach (Hrsg.), Europa als kulturelle Idee, 2010; Koschaker, P ., Europa und das römische Recht, 4. Aufl. 1966, S. 1 ff; Kuschnick, M ., Integration in Staatenverbindungen. Vom 19. Jahrhundert bis zur EU nach dem Vertrag von Amsterdam, 1999; Lohse , W.C./Mittelmeier , J . (Hrsg.), Europas Ursprung. Mythologie und Moderne, 2007; Oppermann/Classen/Nettesheim , Europarecht, 8. Aufl. 2018, §§ 1–3; Schmale, W ., Geschichte Europas, 2000; Schweitzer/Hummer , Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn 22–35.
§ 2 Entwicklung und Stand der Europäischen Integration› III. Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union
III. Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union
§ 2 Entwicklung und Stand der Europäischen Integration› III. Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union › 1. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)
1. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)
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Der auf dem Haager Kongress des „Internationalen Komitees der Bewegung für die Einheit Europas“ 1948 erhobenen Forderung, eine wirtschaftliche und politische Union zu schaffen, die allen Völkern Europas offen stehen solle, die unter einem demokratischen System leben und sich verpflichten, eine Charta der Menschenrechte zu achten, wurde mit der Gründung des Europarats am 5. Mai (daher „Europatag“)[7] 1949 nur sehr bedingt entsprochen. Immerhin gelang damit eine institutionalisierte Form der Kooperation und mit der EMRK die Errichtung eines übernational kontrollierten Menschenrechtsschutzsystems. Insoweit bestand eine Homogenität zwischen den bald das ganze Westeuropa umfassenden Mitgliedstaaten, die für ein im wirtschaftlichen, militärischen oder gar politischen Bereich substanziell über herkömmliche Staatenverbindungen hinausgehendes Vereintes Europa noch fehlte (zB Großbritanniens Orientierung am Commonwealth, Neutralität Schwedens, Österreichs und der Schweiz).
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Die Erkenntnis, dass die Vereinten Nationen ihrer Aufgabe als Friedensgarant kaum nachkommen können würden, die sich abzeichnende Spaltung der Welt und Europas im Rahmen des Ost-West-Gegensatzes, die Notwendigkeit des Wiederaufbaus Deutschlands und seiner „Einbindung“ (in einem doppelten Sinne: einerseits Einbeziehung, dh Wiederaufnahme, andererseits Kontrolle über Deutschland) führten neben speziellen eigenen Wirtschaftsinteressen zum bahnbrechenden, so kurz nach dem Kriege auch gewagten Plan des französischen Außenministers Robert Schuman (entwickelt von seinem Mitarbeiter Jean Monnet ), die Produktion von Kohle und Stahl (damals Schlüsselindustrien) Frankreichs und Deutschlands sowie weiterer beitrittswilliger Staaten zusammenzulegen und einem supranationalen, dh von den Nationalstaaten unabhängigen, Organ zu unterstellen. Damit werde zugleich eine „erste Etappe der Europäischen Föderation“ sichergestellt und die Grundlage einer „viel größeren und tieferen Gemeinschaft“ geschaffen. Deutschland (Adenauer) , Italien (De Gasperi) und die Beneluxstaaten nahmen in der Erkenntnis, dass ihre jeweiligen eigenen Interessen in einer Gemeinschaft besser verfolgt werden können, das Angebot an. Am 18.4.1951 wurde der Vertrag zur Gründung der EGKS unterzeichnet, am 23.7.1952 trat er in Kraft. Seine Geltungsdauer war von vornherein auf 50 Jahre festgelegt, sodass die EGKS mit dem 23.7.2002 zu existieren aufgehört hat[8].
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Da Art. XXIV Abs. 8 des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT)[9] nur Gesamtintegrationen (= grundsätzlich alle Produkte) zulässt, bedurfte die EGKS als Teilintegration (Kohle, Stahl, Eisen und Schrott) einer Ausnahmebewilligung („Waiver“) gemäß Art. XXV Abs. 5 GATT[10].
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