18
Innerhalb von Vertragswerkentauchen ebenso, abhängig von dem jeweiligen Vertragsgegenstand, Denkmuster und damit Prüfungsraster auf, die aus dem nationalen Recht vertraut sind: z. B. die Prüfung von Grund- und Menschenrechtsverletzungen, die dem abwehrrechtlichen Muster im deutschen Verfassungsrecht ähneln (1. Eingriff in den Schutzbereich, 2. Eingriffsrechtfertigung: Fall 10). Wird das Organ einer Internationalen Organisationgegenüber einem Mitgliedstaat tätig, so ist zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen solchen Eingriff vorlagen, ob die Grenzen der Befugnisse beachtet wurden etc. (vgl. Fälle 14und 15): Gedankengänge, die sich innerstaatlich im Bereich der Eingriffsverwaltung finden. Im Rahmen des Völkerstrafrechts, wie es vertraglich im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs geregelt ist, findet sich glasklares materielles Strafrecht neben genuinem Strafverfahrensrecht: Die Regeln über den Erlass von Haftbefehlen nach StPO und nach dem Römischen Statut weisen weitgehende Parallelen auf ( Fall 16).
19
Natürlich gibt es immer wieder Besonderheiten, die man nicht übersehen darf, um nicht das nationale Recht fälschlicherweise „eins zu eins“ auf das Völkerrecht zu projizieren; die Grundstruktur völkerrechtlicher Falllösungen ist aber nicht gar so fremd, wie es zunächst scheinen mag. Nur muss man sich klar machen, dass völkerrechtliche Fälle Parallelen zu praktisch allen Rechtsgebieten des nationalen Rechts aufweisen können, nicht bloß (und noch nicht einmal in erster Linie) zum öffentlichen Recht.[22]
2. Besonderheiten bei den Rechtsquellen
20
Eine zweite große klausurtechnische Schwierigkeit betrifft nicht selten die im Fall anwendbaren Rechtssätze.[23] Eine Zusammenstellung der anerkannten Rechtsquellen des Völkerrechts findet sich in Art. 38 Abs. 1 des IGH-Statuts. Danach können das Vertragsrecht (lit. a), das Gewohnheitsrecht (lit. b) und „die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (lit. c) unterschieden werden, als Hilfsmittel zur Feststellung vor allem von Gewohnheitsrecht Gerichtsentscheidungen und „die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen“ dienen (lit. d). Nicht ausdrücklich erwähnt werden in Art. 38 IGH-Statut bindende Beschlüsse Internationaler Organisationen und verbindliche einseitige Rechtsakte.[24]
a) Völkerrechtliche Verträge
21
Die Feststellung des Norminhalts stellt für das Vertragsrecht vor keine besonderen Probleme. Die Auslegungsregelnim Völkerrecht, die sich in den Art. 31 ff WVK kodifiziert finden, stimmen im Wesentlichen mit den Canones der Auslegung überein, die auch aus dem deutschen Recht bekannt sind. Allerdings bedarf die Vertragsgeltung der Aufmerksamkeit und gegebenenfalls einiger Ausführungen, sofern etwas problematisch sein sollte. Hinsichtlich des Geltungsbereichs völkerrechtlicher Verträgesind drei Dimensionen zu unterscheiden: die persönliche, die sachliche und die zeitliche. Die persönlicheAnwendbarkeit (oder Anwendbarkeit ratione personae ) stellt in der Regel kein Problem dar: Welche Verträge die im Klausurfall auftretenden Staaten unterzeichnet und/oder ratifiziert haben, wird im Sachverhalt meist mitgeteilt werden.[25] Die sachlicheAnwendbarkeit (Anwendbarkeit ratione materiae ) erfordert die Bestimmung des Vertragsgegenstandes, nötigenfalls per Auslegung. Die zeitlicheAnwendbarkeit (Anwendbarkeit ratione temporis ) schließlich zielt auf den Grundsatz des sog. intertemporalen Völkerrechts, wonach ein völkerrechtlicher Vertrag erst mit seinem Inkrafttreten für den jeweiligen Staat die Rechtslage bestimmt.
22
Der Umgang mit Gewohnheitsrecht in völkerrechtlichen Klausurfällen bereitet wohl die größten Schwierigkeiten. Völkergewohnheitsrecht besteht aus einer hinlänglich gefestigten Staatenpraxis (consuetudo) und einer dieser Praxis stützenden Rechtsüberzeugung (opinio iuris sive necessitatis) .[26] Wie aber soll man eine gefestigte Übung in einer Klausur darstellen und wie eine Rechtsüberzeugung der Staaten begründen, ohne sie bloß zu behaupten? Hierauf gleich eine auf den ersten Blick ketzerisch anmutende Antwort: Es ist unmöglich, in einer Klausurlösung eine Norm des Völkergewohnheitsrechts in einer Weise zu begründen, die den Anforderungen an den Nachweis von Gewohnheitsrecht genügen würde.[27] Dies verlangt auch niemand. Sieht man sich an, wie die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen ( International Law Commission , ILC) in ihren Arbeiten umfangreiches Fallmaterial zusammenträgt (das seinerseits regelmäßig aber auch nur eine kleine Auswahl der Staatenpraxis umfasst und beileibe nicht repräsentativ sein muss), wird einem schnell klar, dass Vergleichbares nicht einmal annähernd von Studierenden verlangt werden kann, die eine Klausur im Völkerrecht schreiben.
23
Für derartige Klausurlösungen erlangen die in Art. 38 Abs. 1 lit. d) IGH-Statut genannten Hilfsquellen zur Ermittlung gewohnheitsrechtlicher Regeln besondere Bedeutung (Rechtserkenntnisquellen): Gerichtsentscheidungen oder Stimmen in der völkerrechtlichen Literatur.[28] Hinzu kommen bestimmte besonders markante Beispiele von Staatenpraxis. Auch Entwürfe der ILC, an sich dem soft lawzugehörige Resolutionen, vor allem auch völkerrechtliche Verträge, die zumindest in Teilen als Kodifikation von Gewohnheitsrecht angesehen werden (als Beispiele seien hier die WVK, das WÜD oder Teile des SRÜ genannt), sind hilfreiche Bausteine einer „klausurgerechten“ Begründung gewohnheitsrechtlicher Regeln des Völkerrechts. Um für Klausuren gerüstet zu sein, sollte man daher über bestimmte Grundkenntnisse verfügen: Wesentliche Aussagen klassischer gerichtlicher oder schiedsgerichtlicher Entscheidungen gehören dazu,[29] ebenso wichtige völkerrechtsrelevante zeitgeschichtliche und zeitgenössische Ereignisse und Entwicklungen.
24
Natürlich muss nicht das ganze Arsenal an Begründungselementen für jede Norm des Gewohnheitsrechts mobilisiert werden, die es im Zuge einer Klausurbearbeitung heranzuziehen gilt. Gefordert ist vielmehr eine differenzierende Begründungsökonomie: Es hängt davon ab, ob es sich um ein Schwerpunktproblem des Falles handelt oder um eine Detailfrage, die eher beiläufig überwunden werden sollte, um zielstrebig zu den eigentlichen Problemen des Falles vorzudringen. Wenn z. B. ein Staatsorgan handelt, braucht man auf die Herleitung der Zurechnung von Organhandeln zum Staat kaum Mühe zu verwenden, sondern kann sich auf die bloße Feststellung beschränken, dass die Zurechnung von Organhandeln Gewohnheitsrecht ist (evtl. noch verbunden mit dem Hinweis, dass, weil Staaten überhaupt nur durch Organe handeln können, eine Staatenverantwortlichkeit ansonsten auch gar nicht denkbar wäre). Sind aber Zurechnungsfragen, u. U. in Abgrenzung zueinander, ein Hauptgegenstand des Falles, so kann man etwas eingehender darlegen, warum welche Zurechnungsgrundsätze als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts gelten können (hierzu Fall 5). Die Bandbreite der Begründungsmöglichkeiten reicht von reinen Autoritätsargumenten („Wie der IGH im X-Fall festgestellt hat, ist gewohnheitsrechtlich anerkannt, dass. . .“) bis hin zur eingehenden Darlegung der Herausbildung eines Völkerrechtssatzes und der verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Meist wird man einen Mittelweg beschreiten, der mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung führt.
Читать дальше