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Zweitens ist im europäischen Rechtsraum eine verwaltungsrechtswissenschaftliche Identität, die sich in erster Linie aus einer Abgrenzung des verwaltungsrechtlichen Materials gegenüber verfassungsrechtlichem, unionsrechtlichem, aber auch privatrechtlichem und völkerrechtlichem Material bildet, kaum aussichtsreich. Die disziplinäre Positionierung der Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum sollte weniger durch die Bestimmung von Grenzen, und erst recht nicht durch die Fixierung einer Methode, sondern vor allem durch die Klärung ihres zentralen Interesses als Teil des öffentlichen Rechts erfolgen. Das öffentliche Recht findet, zumindest in freiheitlich-demokratischen Staaten, seine Mitte in der auf die Aufklärung zurückgehenden Idee der Freiheit und der daraus folgenden Spannung zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Handlungsfähigkeit. Als verwaltungsrechtlich sind unter diesem Verständnis in erster Linie solche Rechtsmaterien zu begreifen, welche die organisations-, verfahrens- und materiellrechtlichen Vorgaben bürokratischen Einwirkens auf private Rechtssubjekte regeln.[154] Die rechtsquellentheoretische Zuordnung zum Völkerrecht, Unionsrecht oder staatlichen Recht sollte hingegen in Zeiten der Interdependenz der verschiedenen Rechtsordnungen nicht mehr das primäre Kriterium disziplinärer Identität bilden.[155] Die Verwaltungsrechtswissenschaft sollte als unselbständiger Teil eines europäischen öffentlichen Rechts, eines ius publicum europaeum , betrieben werden, das sich aus staatlichen, suprastaatlichen und völkerrechtlichen Komponenten speist. Rigide Primäridentitäten wie Verwaltungsrechtler, Verfassungsrechtler, Europarechtler oder Völkerrechtler werden prekär. Es steht zu erwarten und zwecks einer problemadäquaten Wissenschaft gar zu hoffen, dass sie sich im europäischen Rechtsraum verflüssigen. Andere Identitätsgehalte wie ein besonderes Interesse an einem Sachgebiet (Sicherheitsrecht, Umweltrecht, Verfahrensrecht oder Rechtsschutz im Mehrebenensystem) oder einer bestimmten Aufgabenstellung (dogmatischer Systembau, Anwendungsdiskurse, eine bestimmte theoretische Forschungsrichtung) werden an Gewicht für das Selbstverständnis gewinnen. Eine Pluralisierung der Identitäten wird die Attraktivität der Wissenschaft stärken. Zugleich erscheint es für die Integration der Disziplin von hoher Bedeutung, dass die Disziplin eine Mitte behält. Nichts scheint mir dafür geeigneter als das dem „öffentlichen Recht“ zugrundeliegende Faszinosum hoheitlicher Macht in ihrer dialektischen Spannung zu individueller Selbstbestimmung.
Einführung› § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin› Bibliographie
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Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006. |
Einführung› § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin› Anhang: Der Fragebogen
I. Die Genese der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht
1. |
Ältere Schichten (Kameralistik, Policeywissenschaft etc.) |
2. |
Das rechtswissenschaftlich-dogmatische Verwaltungsrecht Hierbei sollten folgende Themen bedacht werden: – historischer Kontext der Genese – Etappen der Entwicklung der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht – Welches sind die großen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Beiträge dieser Epoche? Was zeichnet sie aus? – Einfluss der Wissenschaft auf die Entwicklung des Verwaltungsrechts |
II. Die gegenwärtige Wissenschaft vom Verwaltungsrecht
Hierbei sollten folgende Themen bedacht werden:
– |
Welche Innovationen und Transformationen erfolgten gegenüber den „klassischen“ Systemen? |
– |
Welches sind große verwaltungsrechtswissenschaftliche Systeme dieser Epoche? Was zeichnet sie aus? Gibt es große „Schulen“? |
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Gliedert sich die Lehre vom Verwaltungsrecht in verschiedene Teildisziplinen auf? |
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Verhältnis zu anderen Subdisziplinen des Rechts, insbesondere zum Verfassungsrecht |
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Verhältnis zur Verwaltungswissenschaft |
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Institutionelle Verfestigung der Wissenschaft vom Verwaltungsrecht |
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Verhältnis der Wissenschaft zur praktischen Tätigkeit, insbesondere zur Gerichtsbarkeit (sachliche Einflussnahmen, personelle Verschränkungen) |
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Maßgebliche Publikationen und Publikationsorgane. Maßgebliche Profile |
III. Die Lehre des Verwaltungsrechts
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