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Dabei kommt die sog. juristische Methode mit bemerkenswert wenig methodischer Reflexion aus. Die einschlägigen Ausführungen in dem deutschen Lehrbuch, das wie kein anderes den Durchbruch zu dieser juristischen Methode im Verwaltungsrecht symbolisiert, belegen dies anschaulich. Otto Mayer schreibt: „Unser Hauptteil wird die Aufgabe haben, das System der einzelnen Rechtsinstitute dieses Verwaltungsrechts vorzutragen. Dafür gibt es keine klassische Einteilung, die zu befolgen wäre. Wir geben den Stoff, wie er sich von selbst geordnet hat.“[126] Die eigentliche Methode, also das genaue wissenschaftliche Procedere des Vergleichens, der Abstraktion, der Begriffsbildung, der Strukturierung und Materialanordnung, die den Kern dogmatischer Arbeit ausmachen, bleibt im Dunkeln.
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Dies hat der Strahlkraft dieses Zugangs nicht geschadet. Sein Erfolg mag auch der Tatsache zu verdanken sein, dass diese „juristische Methode“ dem Rechtswissenschaftler potenziell eine bedeutende Machtposition zuweist und insbesondere der staatsnahe verwaltungsrechtliche Diskurs zwar nicht in allen,[127] wohl aber in einigen Ländern großen politischen Einfluss gewinnt.[128] Dies gilt besonders in Traditionen, die der deutsche Idealismus geprägt hat.[129] Dieser idealistische Hintergrund wird von Mayer immerhin ausgewiesen. „Sie [ scil. : die Methode] beruht auf dem Glauben an die Macht allgemeiner Rechtsideen, die in den Mannigfaltigkeiten des wirklichen Rechts zur Erscheinung und Entfaltung kommen, zugleich aber auch ihrerseits in der Geschichte sich wandeln und fortschreiten. Er hängt bei mir wohl mit Hegelischer Rechtsphilosophie zusammen, vielleicht auch noch mit ganz Unjuristischem, mußte aber schon recht stark sein, daß ich es wagen konnte, solchen Ideen auch in dem zerfahrenen und unfertigen deutschen Verwaltungsrecht nachzugehen, um sie herauszuheben und aufzuweisen.“[130]
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Dogmatischem Denken wird gelegentlich vorgeworfen, ein autoritäres Projekt zu verfolgen.[131] Ohne Zweifel wurden in der Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaften in dogmatischen Figuren abgelagerte, autoritäre Gehalte gegen Demokratisierungsbemühungen gestellt. In diesem Sinne kann man eine der berühmtesten verwaltungsrechtswissenschaftlichen Aussagen überhaupt verstehen: Otto Mayers „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ aus dem Jahre 1924.[132] Sie steht für obrigkeitsstaatliche Beharrungskräfte gegenüber einer liberaldemokratischen Fortentwicklung des Verwaltungsrechts. Dogmatik hat aber nicht zwingend eine solche Ausrichtung; das Verwaltungsrecht entstand vielmehr mit einer emanzipatorischen Ausrichtung, und in Schweden etwa ist sie eng mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates verwoben.[133] Was die methodische Grundlage angeht, so steht außer Frage, dass der kryptoidealistische Systembegriff kaum wissenschaftlich haltbar ist. Dies ist in der Rechtswissenschaft aber inzwischen angekommen. Wurden früher „das“ System und die rechtswissenschaftlichen Begriffsschöpfungen als dem Recht innewohnend verstanden, gelten sie heute zumeist nur als Instrumente für die Ordnung und Handhabung des Rechts. Man ist viel zurückhaltender in der Auffassung, wie aussagekräftig ein System und rechtswissenschaftliche Begriffe für das geltende Recht sind, wie viel dogmatische Autorität ihnen innewohnt, wie „schlagend“ eine entsprechende Argumentation ist.[134] Auch wird heute kaum ein Rechtswissenschaftler seine Konstruktionen als „letztes Asyl des Rechtsbewußtseins“ verstehen,[135] ein durch und durch undemokratisches und wissenschaftlich unhaltbares Verständnis. Dies mindert aber nicht die Bedeutung der Begriffs- und Systemorientierung als solche. Juristische Dogmatik zielt weiterhin auf Strukturen, mit denen das verwaltungsrechtliche Material systematisch erfasst werden kann. Dies hat eine eigene Normativität, denn sie dient der Kohärenz und damit dem Gedanken der Rechtsgleichheit.[136] Dafür bedarf es jener Begriffs- und Systembildung, die im Mittelpunkt dogmatischen Denkens steht. Weiter erleichtert dies Transferleistungen zwischen Rechtsgebieten und damit rechtliche Innovation in einem dynamischen gesellschaftlichen und politischen Kontext. Dogmatisches Denken ist keineswegs nur nachvollziehend, sondern bisweilen hochgradig kreativ, was die Bezeichnung als „dogmatischen Konstruktivismus“ nahelegt.[137] Viele verwaltungsrechtliche Rechtsinstitute, welche die jeweilige verfassungsrechtliche Konstellation konkretisieren und operationalisieren, sind Geschöpfe der Verwaltungsrechtswissenschaft.
b) Aufgaben im europäischen Rechtsraum
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Dogmatik bietet eine Lese-, Ordnungs- und Verständnishilfe im Umgang mit dem Rechtsmaterial sowie eine Folie seiner Kritik. Aus diesem Grund erscheint eine dogmatische Aufbereitung der verwaltungsrechtlichen Normen und Judikate im europäischen Rechtsraum als dringende rechtswissenschaftliche Aufgabe.[138] Dies gilt insbesondere angesichts einer nicht immer argumentativ entfalteten und konsistenten Rechtsprechung des EuGH und einer Rechtsetzungspraxis, bei der aufgrund zahlreicher Faktoren die Kohärenz eine nur nachgeordnete Rolle spielt. Es gibt zum europäischen Verwaltungsrecht kaum im gesamten europäischen Rechtsraum rezipierte rechtswissenschaftliche Konstrukte, die Lese-, Ordnungs- und Verständnishilfen bieten, insbesondere in einer rechtsgebietsübergreifenden Weise. Die dogmatische Ausrichtung bildet daher eine sinnvolle Mitte für eine gemeinsame Verwaltungsrechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum.
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Allerdings sollte sich eine solche Dogmatik des Verwaltungsrechts der Europäischen Union erreichbare Ziele setzen. Auch dies zeigt eine vergleichende Betrachtung der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften. Dort bleibt die Systembildung angesichts der Stoffmasse und Kurzlebigkeit vieler verwaltungsrechtlicher Regelungen regelmäßig hinter derjenigen im Strafrecht, im Privatrecht, aber auch im Verfassungsrecht[139] zurück. Als „kleine“ Alternative wählen viele Autoren die Fokussierung auf gerichtliche Entscheidungen, die sie systematisieren oder in einzelne Prüfungsschritte zerlegen. Die Verwaltungsrechtsdogmatik entwickelt sich in Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung; oft ist die Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit gar der Zündfunken für die disziplinäre Etablierung. Bisweilen erstarkt diese Perspektive gar zum alles dominierenden Ansatz, so dass das Verwaltungsrecht zum Recht gerichtlicher Kontrolle öffentlichen Handelns schrumpft.[140]
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Viele Unterschiede zwischen den verschiedenen Dogmatiken stehen in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Geschichte der Gerichtsbarkeit und den Arten ihrer Kontrolle hoheitlicher Maßnahmen, ihrer Kompetenzen, Verfahren sowie Begründungsstilen. Dies ist besonders offensichtlich im Unterschied einer allgemeinen Gerichtsbarkeit zwischen einer spezialisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit: Letztere legt theoretische, dogmatische und praktische Abgrenzungen und „Systembildungen“ nahe, die nicht nur ihre Zuständigkeiten im Gerichtsaufbau ausloten, sondern zur Identität des Faches in den entsprechenden Ländern wesentlich beitragen. Weiter zeichnet sich etwa in den Wissenschaftsstilen ab, ob die Dogmatik eher in den Händen von Professoren, so in Deutschland, Italien oder Spanien, oder aber in den Händen von Richtern, so in Frankreich und im Vereinigten Königreich, liegt.[141] Dies mag erklären, warum ein Urteil sich in einem deutschen wissenschaftlichen Text zumeist in der Fußnote zwecks Belegs eines davon grundsätzlich unabhängigen wissenschaftlichen Gedankens befindet, in Frankreich hingegen oft im Haupttext den wesentlichen Gegenstand der Erörterung bildet. Zudem erscheint eine Verwaltungsrechtswissenschaft und insbesondere die Dogmatik erheblich von der wissenschaftlichen Qualität der Judikate abzuhängen. Auf den europäischen Rechtsraum gewandt: Mehr begriffliche Stringenz, argumentative Prägnanz und systematische Kohärenz in der Entscheidungspraxis des EuGH würden die Entfaltung einer europäischen Verwaltungsrechtsdogmatik beflügeln.
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