7
Es bestätigt sich daher auch im Unionsrecht, dass sich „die“ Wirtschaftsordnung weniger in derartigen Formeln als in den konkreten Regelungen für die wirtschaftliche Tätigkeit zeigt. Dies gilt für die Marktfreiheiten (s. Rn 45 ff), aber insbesondere auch für die Vorschriften, welche die staatliche Einflussnahme auf den Wettbewerb begrenzen, sei es, dass die staatliche Subventionierung wirtschaftlicher Betätigung geregelt wird (s. Rn 897 ff), sei es, dass auch öffentliche Unternehmen in Art. 106 AEUV grundsätzlich den Regeln des Wettbewerbsrechts unterworfen werden (s. Rn 649 ff). Darüber hinaus hat das sekundäre Unionsrecht bereichsspezifische Entscheidungen für bestimmte Wirtschaftszweige geschaffen (zu Finanzmarkt, Telekommunikation und Energie s. unten Rn 495 ff). Wenn dabei beispielsweise die Privatisierung bisheriger Staatsmonopole durchgesetzt wird, hat dies größere Auswirkungen als die konkretisierungsbedürftige Grundsatzentscheidung für die Marktwirtschaft. Damit wurde der nationale „wirtschaftspolitische“ Spielraum immer mehr zu einem europäisch geprägten und schließlich gesamteuropäischen.
Der europäische Einfluss äußerte sich zunächst im Abbau nationaler Vorschriften (s. als besonders deutliches Beispiel das Handwerksrecht und dessen stark von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit geprägte Entwicklung bis hin zur faktischen Aufgabe des Meisterzwanges durch die Handwerksnovelle 2004, dazu Rn 125, 147, 458), aber zunehmend auch in der aktiven Gestaltung ganzer Wirtschaftszweige durch Richtlinien(s. zum Telekommunikations-, Energiewirtschafts- und Finanzdienstleistungsaufsichtsrecht Rn 495 ff). In Fall 1etwa ist das Bankrecht in einem Umfang harmonisiert, der eine nationale Verschärfung der Prüfpflichten ausschließen dürfte. In Europa hat man die Entscheidung zwischen Vertrauen in die Selbstregulierung des Marktes und staatlicher Aufsicht zugunsten der Letzteren entschieden und das öffentlichrechtliche Instrumentarium kontinuierlich ausgeweitet, so dass man von einer „Publifizierung“ des europäischen Wirtschaftsrechts sprechen könnte (s. Rn 498). Gerade das europäische Bankrecht wurde schon früh als „Bankenaufsichtsrecht“ bezeichnet[21]. Seit der Finanzkrise und vor allem mit dem Inkrafttreten der Bankenunion (vgl dazu Rn 182, 191 ff) verdient es diesen Namen erst recht. Europäisch hat man sich auf die Hochzonung zentraler Aufgaben zur EZB entschieden, was ohne die Finanzkrise sicherlich nicht denkbar gewesen wäre, denn vorher lehnten die Mitgliedstaaten entsprechende Kommissionsvorstöße ab. Insoweit wiederholt sich auch bei der daran geäußerten, tlw heftigen Kritik eine Diskussion, wie wir sie in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg geführt hatten, wo die Installation einer Bundesbehörde für die Bankenaufsicht im föderalen System der jungen Bundesrepublik alles andere als selbstverständlich war. Erst als das BVerfG die verfassungsrechtlichen Fragen geklärt hatte, war der Weg zu einer bundeseinheitlichen Finanzmarktaufsicht frei. Auch in den USA waren die Entscheidungen des Supreme Court zum New Deal auch solche zu den Bundeskompetenzen auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts[22].
8
Der vor allem in den Anfangsjahren der Bundesrepublik ausgetragene Streit um die Wirtschaftsverfassung zeigt die Zeitbedingtheit vieler ökonomischer und politischer Vorstellungen und wohl auch die Vergeblichkeit, ein einheitliches Modell staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaft zu entwickeln. Auch insoweit ist die heutige Gestalt der Wirtschaftsordnung das Produkt einer historischen Entwicklung, die mit der frühen Neuzeit einsetzt. An dieser lassen sich die Grundpositionen für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft illustrieren, die bis heute nicht nur die politische Diskussion, sondern auch die Normen des öffentlichen Wirtschaftsrechts prägen. Wieder aufgelebt ist diese Diskussion im Regulierungsrecht, s. unten Rn 18, 23 ff.
a) Merkantilismus und staatliche Lenkung der Wirtschaft
9
Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert nahmen die Staaten Europas massiven Einfluss auf den Wirtschaftsprozess. Primäres Ziel war die Stärkung der Wirtschafts-, Handels- und Finanzkraft der absolutistischen Staaten, ohne dass dem eine in sich geschlossene wirtschaftspolitische Konzeption zugrunde gelegen hätte. Dieser sog. Merkantilismusbezeichnet also kein wirtschaftstheoretisches oder gar juristisches Lehrgebäude, sondern allenfalls ein Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen, das sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht markante länderspezifische Unterschiede aufwies. Während die meisten europäischen Staaten sich auf den Handel konzentrierten, lenkte der vor allem zu Beginn stark von der Wirtschaftsgesinnung des lutherischen Fürstenstaates[23] geprägte deutsche Kameralismussein Augenmerk umfassender auf das Ganze des Staates. Sein Ziel war angesichts des gerade überstandenen Dreißigjährigen Krieges die Erhöhung der Bevölkerungszahl, aber auch die Wohlfahrt des absoluten Fürstenstaates beziehungsweise dessen Schatzkammer, der camera . Die Förderung von Handel und Gewerbe war freilich – neben einer umfassenden eigenen wirtschaftlichen Betätigung des Staates durch Staatsbetriebe – die Voraussetzung für eine Sanierung der Staatsfinanzen. Aufgabe des Staates war somit die Förderung einer umfassend verstandenen staatlichen Wohlfahrt[24].
10
Die eingesetzten Mittel unterschieden sich in den europäischen Staaten nur wenig. Der Staat schützte die einheimische Wirtschaft durch Abschottung nach außen (Einfuhrzölle auf Fertigprodukte; Förderung des Exports), förderte bestimmte für den wirtschaftlichen Fortschritt wesentliche Wirtschaftszweige (v.a. Bergbau) durch Monopoleund begrenzte durch den Zunftzwang(weiterhin) die Zahl der Gewerbetreibenden, mit den sogenannten „Staatsregalen“ unterhielt er Infrastruktureinrichtungen in eigener Verantwortung“.
Beim Zunftwesen handelte es sich freilich um eine deutlich ältere, sich seit dem 13. Jahrhundert entwickelnde Form staatlich verfasster Selbstorganisationder Wirtschaftstätigkeit. Sie verfügte über eine eigene Zunftgerichtsbarkeit, regelte die Arbeitszeiten und bemühte sich um die Qualität „zünftiger“ Leistungen und Produkte. Zünfte orientierten sich ferner an aristotelisch-scholastischen Vorstellungen vom „gerechten Preis“, der keineswegs zwingend der Marktpreis war. Ergänzt wurde diese Entwicklung durch strenge Ausbildungsvorschriften (Lehrlings- und Gesellenzeit, Meisterstück) und eine umfassende „Zuverlässigkeitsprüfung“ (Vermögensnachweis, guter Leumund). Nur Bürger konnten das Handwerk ausüben, das heißt, mit dem Meisterrecht musste auch das Bürgerrecht erworben werden. Das Zunftrecht diente also auch der Abschottung des Marktes nach außen. Erst die jüngsten Handwerksnovellen nahmen endgültig Abschied von solchen Vorstellungen und vollendeten die Öffnung für den europäischen Binnenmarkt (s. Rn 39, 125, 457 f).
b) Liberalismus und Gewerbefreiheit
11
Abgelöst wurden diese feudal-ständisch geprägten merkantilistischen Vorstellungen durch die bürgerliche ökonomische Liberalität. Der Liberalismus basierte auf einer strikten Dichotomie von Gesellschaft und Staat und führte zu den Reformen des 19. Jahrhunderts[25], insbesondere der Einführung der Gewerbefreiheit, als deren Gegenpol das Zunftwesen angesehen wurde. Der Idee der Freiheit von (staatlichem) Zwang entsprach im wirtschaftlichen Kontext das Prinzip des Laissez-faire . Die klassische Nationalökonomie (Adam Smith , David Ricardo) forderte das freie Spiel der Kräfte, das am besten in der Lage sei, die ökonomischen Probleme optimal zu lösen und bildete damit den Gegenpol zum merkantilistischen Ideal einer „allsorgenden bürokratischen Wirtschaftspolizei“[26]. Nach Smith lenkt in einer harmonischen, von der menschlichen Arbeitsteilung bestimmten Ordnung eine invisible hand die Individuen kraft ihrer natürlichen Eigeninteressen in die richtige Richtung. Der Staat sollte in wirtschaftlicher Hinsicht weitgehende Enthaltsamkeit üben, wirtschaftliche Ordnungsollte gerade durch Freiheitentstehen, nicht durch Recht. Rechtliche Konsequenz war die (einfachgesetzliche) Einführung der Gewerbefreiheit,die in dieser Phase weit effektiver war als die verfassungsrechtliche Garantie der Berufs- und Eigentumsfreiheit[27].
Читать дальше