Auch die Vollendung des Binnenmarktes lässt sich nicht nur mit dem politischen Ziel der Einigung Europas, sondern ebenfalls mit gängigen ökonomischen Theorien und Vorstellungen begründen. Der Gedanke, dass das grenzüberschreitend arbeitsteilige Wirtschaften für alle Beteiligten wirtschaftlich vorteilhaft ist, geht bereits auf Adam Smith und David Ricardo zurück[40]. Gerade für den europäischen Kapitalmarkt haben aktuelle ökonomische Studien[41], die erheblichen Einfluss auf die Konzepte der Kommission haben, die Integration der nationalen Märkte als Wachstumsfaktor betont, nicht zuletzt als Voraussetzung für die Positionierung der europäischen Wirtschaft angesichts der Herausforderungen der Globalisierung. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass auch die Auslegung von Marktfreiheiten und europäischem Wettbewerbsrecht stark von ökonomischen Vorstellungen geprägt ist, in denen sich letztlich das Ringen um den Ausgleich von wirtschaftlicher Freiheit des Einzelnen und staatlicher bzw europäischer Kontrolle wiederholt. Innovationsanreize lassen sich allerdings – auch nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern – nicht nur durch Regulierungsfreistellung, sondern durch zusätzliche, aber an ökonomischen Grundsätzen orientierte Regulierung schaffen. Beschränkt sich aber auch das Unionsrecht insgesamt nicht auf eine („reine“) Marktwirtschaft, so relativiert sich auch die Frage einer europarechtlichen Überformung der deutschen „Wirtschaftsverfassung“[42].
e) Die europäische Ordnung des Binnenmarktes
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Seit den 1980er Jahren begann aber auf europäischer Ebene ein Prozess, der Liberalisierung durch die Beseitigung national unterschiedlicher Regulierung mit europäischer Harmonisierung von Standards verband, sobald etwa im Umweltbereich die entsprechenden europäischen Kompetenzen geschaffen waren. Erstmals zu einer politischen Langzeitstrategie wurde dies mit der sog. Lissabon-Strategie (2000-2010). Der Europäische Rat hatte sich 2000 in Lissabon das ehrgeizige Ziel gesetzt, Europa innerhalb eines Jahrzehnts zur wettbewerbsstärksten und dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen[43]. Es folgte die Strategie Europa 2020, aus der zB mit der digitalen Agenda bindende Leitinitiativen abgeleitet, aber auch unter dem Eindruck der Finanzkrise die haushaltspolitische Überwachung der Mitgliedstaaten und Stabilitätsmechanismen implementiert wurden. Die Befugnis zu einer Koordination der Wirtschaftspolitik folgt aus Art. 5 AEUV[44]. Aus den Strategien werden aber auch sehr konkrete Regelungsaufträge abgeleitet. Das bürgerliche Recht und erst recht das IPR sind genauso europäisiertes Recht wie seit langem das öffentliche Wirtschaftsrecht. Der europäische Datenschutz erfasst auch das öffentliche Wirtschaftsrecht. Leitthemen der neuen Kommission sind Künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit.
3. Einflüsse von Wirtschaftswissenschaften und Rechtsvergleichung
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Die Europäisierung des öffentlichen Wirtschaftsrechts und die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Globalisierung öffnete die juristische Diskussion für Einflüsse aus anderen Rechtsordnungen, vor allem auch dem US-amerikanischen Recht. Dies gilt seit langem im Kartell- und Finanzmarktrecht, wurde besonders augenscheinlich an der Entwicklung des Telekommunikationsrechts, gilt aber auch für die Diskussion um neue Steuerungsmodelle und die Ökonomisierung des Verwaltungsrechts[45].
Diese Entwicklung war kein Zufall. Die USA nahmen zum einen über die WTO[46], zum anderen aber auch direkt auf die europäische Normsetzung Einfluss. Im Ergebnis lassen deswegen das deutsche und das US-amerikanische Telekommunikationsrecht „Übereinstimmungen in einem Umfang erkennen, den man auf den ersten Blick wohl nicht erwartet hätte“[47]. Gerade in den USA ist die Diskussion um das „Regulierungsrecht“ aber eingebettet in das allgemeine Verwaltungsrecht, so dass nicht nur das Konzept der „independent regulatory agency“ die europäische Entwicklung beeinflusste. Vor allem aber steht das Verwaltungsrecht von Anfang an unter starkem allgemeinen Rechtfertigungsdruck, so dass praktisch alle Lehrbücher zum allgemeinen Verwaltungsrecht mit der Frage nach der Rechtfertigung staatlicher „regulation“ beginnen, genauso wie die Diskussion um das Regulierungsrecht in Deutschland. In der Sache wird die Diskussion dabei stark von wirtschaftstheoretischen Ansätzen geprägt. Am Beginn der neueren Entwicklung stand die Chicago School of Economics [48]. Diese ist gekennzeichnet durch ein Vertrauen in die – staatlicher Intervention grundsätzlich überlegenen – marktwirtschaftlichen Steuerungskräfte und prägte maßgeblich die Reaganomics, die wiederum auch die deutsche Deregulierungsdiskussion der 1980er und 1990er Jahre beeinflusste. Die damit beginnende Ausrichtung gerade auch des Verwaltungsrechts an ökonomischen Grundsätzen führte zum Entstehen von law and economics , der Hauptströmung des modernen US-amerikanischen Verwaltungsrechts, die mit der „ökonomischen Analyse des Rechts“ in Deutschland nur sehr bedingt zu vergleichen ist und sich in der Zwischenzeit durch die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Ansätze erheblich weiterentwickelt hat[49]. Aus dem homo oeconomicus wurde vor allem unter dem Einfluss der sog. Spieltheorie ein gerade nicht in allen Fällen rational handelnder und auf Effizienz bedachter Akteur. Vor allem aber muss man sich hüten, diese Bewegung auf eine „Ökonomisierung“ des Rechts oder gar einen „Terror der Ökonomie“[50] zu reduzieren. Im Kontext des Wirtschaftsrechts ist aber zu beachten, dass ungeachtet dieser vor allem deutschen Kritik der Einfluss der law and economics-Bewegung auf europäischer Ebene systemprägend ist[51].
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Während die traditionelle Wohlfahrtsökonomik die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in den Markt insbesondere bei Monopolen bzw bei Oligopolen als Reaktion auf Marktversagen legitimierte[52], lieferte gerade die empirische Auseinandersetzung mit der staatlichen Verteilung von Frequenzen (dazu auch unten Rn 589 f) für Coase den Ausgangspunkt für seine Gegenthese. Effizienzprobleme entstünden nicht unbedingt aufgrund eines Versagens des Marktes, sondern auch aufgrund eines Versagens staatlicher Marktregulierung und der unzureichenden Ausgestaltung transaktionsfähiger Rechte (property rights). Das „Coase Theorem“[53] geht davon aus, dass die Betroffenen selbst durch Verhandlungen – sogar unabhängig von der Zuteilung der Eigentumsrechte – eine effiziente Lösung erzielen, wenn es keine Transaktionskosten gibt. Staatliche Eingriffe führen nach diesem Ansatz keinesfalls zu besseren, sondern häufig wegen ihres verengten Blickwinkels zu schlechteren Ergebnissen als der Markt[54]. Da aber auch das Verhandlungsmodell daran krankt, dass die Transaktionskosten nur im Modell als Null angenommen werden können, entwickelte sich vor allem in den letzten Jahren ein weniger kritisches, aber durchaus differenziertes Verhältnis zwischen Ökonomie und öffentlichem Wirtschaftsrecht[55]. Andererseits provoziert gerade die starke Betonung des Effizienzprinzips jedenfalls in der deutschen Diskussion[56] den Vorwurf einer „Staatsromantik der Technokratie“[57]. Von besonderer Bedeutung erwies sich schließlich der ökonomische Ansatz in solchen Bereichen, die man als „natürliche Monopole“ interpretieren kann, wo also ein einzelner Anbieter Leistungen billiger anbieten kann als der Wettbewerb (s. Rn 569 ff). Bereichert hat diese Bewegung aber auch den Kanon der Methoden für staatliche Verteilungsentscheidungen durch die Versteigerung (s. Rn 562 f)[58].
§ 1 Wirtschaft und Verwaltung› II. Öffentliches Wirtschafts- bzw Wirtschaftsverwaltungsrecht
II. Öffentliches Wirtschafts- bzw Wirtschaftsverwaltungsrecht
1. Begriff und Gegenstand
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