Frage 1: Die Bayerische Industrie- und Handelskammer möchte wissen, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung mit Unionsrecht vereinbar ist.
Frage 2: Unterstellt, die europäische Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist nichtig. Wäre ein deutsches Süßigkeitenwerbeverbotsgesetz, das wie die europäische Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ein absolutes Werbeverbot für Süßigkeiten regelt, unionsrechtskonform?
Bearbeitervermerk:
Alle aufgeworfenen Rechtsfragen sind – gegebenenfalls hilfsweise – rechtsgutachterlich zu erörtern.
Anmerkung:
Auf geltende Richtlinien und Verordnungen der EU ist nicht einzugehen.
Fall 1 Süßigkeitenwerbung› Vorüberlegungen
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Der Fall ist (modifiziert) im ersten Staatsexamen gestellt worden. Der erste Fragenkreis betrifft das System der europäischen Rechtsetzungskompetenzen, die der EuGH maßgeblich in zwei Entscheidungen zum Tabakwerbeverbot entwickelt hat. Im Lissabonner Vertrag ist die Abgrenzung der Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten grundlegend geregelt worden. Zu prüfen sind spezifische Rechtssetzungsbefugnisse der Union zum Gesundheitsschutz und zum Binnenmarkt sowie die Flexibilitätsklausel und weitere Anforderungen wie das Subsidiaritätsprinzip. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der europäischen Grundrechtsdogmatik. Der zweite Teil betrifft Standardfragen der Prüfung von Grundfreiheiten.
Fall 1 Süßigkeitenwerbung› Gliederung
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Frage 1 |
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A. |
Zuständigkeit der EU zum Erlass des Süßigkeitenwerbeverbots |
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I. |
Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung |
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II. |
Zuständigkeit der EU |
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III. |
Rechtsgrundlage: Art. 168 Abs. 5 AEUV |
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IV. |
Art. 114 AEUV – Harmonisierung im Binnenmarkt |
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1. |
Reichweite des Art. 114 AEUV |
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2. |
Abbau von Behinderungen der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts |
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3. |
Ergebnis |
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V. |
Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV |
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VI. |
Art. 115 AEUV |
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VII. |
Art. 352 AEUV – Flexibilitätsklausel |
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VIII. |
Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, Art. 5 Abs. 3 EUV |
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1. |
Ausschließliche Zuständigkeit der Union? |
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2. |
„Nicht ausreichend“ auf mitgliedstaatlicher Ebene; „besser“ auf Unionsebene |
B. |
Verstoß gegen die Grundrechte |
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I. |
Rechtsgrundlage der europäischen Grundrechte |
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II. |
Meinungsfreiheit |
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1. |
Schutzbereich |
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2. |
Eingriff |
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3. |
Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs |
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4. |
Ergebnis |
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III. |
Unternehmerische Freiheit |
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IV. |
Eigentumsgarantie |
C. |
Ergebnis |
Frage 2 |
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A. |
Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 AEUV |
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I. |
Schutzbereich |
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II. |
Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit |
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III. |
Rechtfertigung der Beschränkung |
B. |
Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV |
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I. |
Schutzbereich |
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II. |
Beschränkung |
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III. |
Rechtfertigung der Beschränkung |
C. |
Ergebnis |
Fall 1 Süßigkeitenwerbung› Lösung
Lösung
Frage 1
A. Zuständigkeit der EU zum Erlass des Süßigkeitenwerbeverbots
I. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung
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Die Bayerische Industrie- und Handelskammer rügt in erster Linie die fehlende Kompetenz der Union zum Erlass des beanstandeten Süßigkeitenwerbeverbots. Wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV, wird die Union nur innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit tätig. Deshalb ist zunächst zu untersuchen, ob die Union für den Erlass der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung zuständig ist.
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Eine ausschließliche Zuständigkeit der Union i.S.v. Art. 3 AEUV ist nicht erkennbar. Im Rahmen der geteilten Zuständigkeit (Art. 4 AEUV) erstreckt sich die Zuständigkeit der Union auf gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hinsichtlich der im Vertrag genannten Aspekte (Art. 4 Abs. 2 lit. k AEUV). Sicherheitsanliegen werden mit der Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung nicht geregelt. Art. 6 lit. a AEUV eröffnet der Union aber die Zuständigkeit für Schutz und Verbesserung der menschlichen Gesundheit im Wege der Durchführung von Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Nicht ausgeschlossen erscheint außerdem die geteilte Zuständigkeit der Union unter dem Gesichtspunkt des Binnenmarkts (Art. 4 Abs. 2 lit. a AEUV).
III. Rechtsgrundlage: Art. 168 Abs. 5 AEUV
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Auf der Grundlage von Art. 168 Abs. 5 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit sowie insbesondere zur Bekämpfung der weit verbreiteten schweren grenzüberschreitenden Krankheiten, Maßnahmen zur Beobachtung, frühzeitigen Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren sowie Maßnahmen, die unmittelbar den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch zum Ziel haben, erlassen.
Auf Art. 168 Abs. 5 AEUV können Fördermaßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit gestützt werden. Die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung trägt zwar zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit bei, aus dem Wortlaut und den genannten Regelbeispielen folgt aber, dass es sich bei den Unionsmaßnahmen nur um fördernde Maßnahmen handeln darf. Das folgt auch aus Art. 6 S. 1 AEUV, wonach die Union nur unterstützend, koordinierend und ergänzend tätig werden darf. Die hier gesetzten Maßnahmen gehen darüber hinaus. Hier ergreift die Union die Initiative und wird selbst aktiv. Die Verbotsverordnung greift vielfältig in die Freiheit der Unternehmen und des Binnenmarktes ein. Deshalb kann auch dahingestellt bleiben, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung der Bekämpfung „weit verbreiteter schwerer grenzüberschreitender Krankheiten“ dient, wie es bei bestimmten Stoffwechselerkrankungen der Fall sein könnte. Eine Maßnahme zur Beobachtung oder frühzeitigen Meldung liegt nicht vor. Als Maßnahme der Gesundheitspolitik ist die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung unzulässig.
IV. Art. 114 AEUV – Harmonisierung im Binnenmarkt
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Zu prüfen ist, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung auf Art. 114 AEUV gestützt werden kann. Gemäß Art. 114 Abs. 1 AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat zur Verwirklichung der Ziele des Art. 26 AEUV im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben.
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