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Auch die Umsatzsteuer wird indes teilweise als direkte Steuer erhoben. So ist beim innergemeinschaftlichen Erwerb (§ 1 Abs. 1 Nr 5 i. V. m. § 1a UStG) der Erwerber der Steuerschuldner (§ 13a Abs. 1 Nr 2 UStG). Bei der Einfuhrumsatzsteuer (§ 1 Abs. 1 Nr 4 UStG) ist die Steuerschuldnerschaft dessen, der eine Lieferung aus dem Ausland erhält, zumindest möglich.[24] Zudem regelt § 13b Abs. 5 UStG eine Vielzahl von Fällen, in denen die Steuerschuldnerschaft auch im „Normalfall“ einer Lieferung oder sonstigen Leistung nach § 1 Abs. 1 Nr 1 UStG auf den Empfänger (der hier meist Unternehmer sein muss) übergeht (Reverse Charge).[25] Die Reverse Charge-Regelungen sind in der Vergangenheit immer weiter ausgedehnt worden, zuletzt mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2014 durch das sog. Kroatien-AnpG.[26]
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Diese Entwicklung wird vorläufig nichts daran ändern, dass die Umsatzsteuer als eine – und zwar als die wichtigste – indirekte Steuer wahrgenommen wird. Ein gewisser Trend hin zu einem Gleichlauf zwischen Steuerschuldnerschaft und Steuerträgerschaft ist indes zu erkennen.
§ 1 Einleitung› C. Charakteristika der Umsatzsteuer › VI. Gemeinschaftsteuer
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Die Umsatzsteuer ist eine Gemeinschaftsteuer, weil ihr Aufkommen Bund und Ländern gemeinsam zusteht (Art. 106 Abs. 3 GG). Seit 1998 erhalten auch die Kommunen einen Anteil (Art. 106 Abs. 5a GG). Zu den Einzelheiten s. u. Rn 51 ff.
§ 1 Einleitung› D. Einfluss des Gemeinschaftsrechts
D. Einfluss des Gemeinschaftsrechts
§ 1 Einleitung› D. Einfluss des Gemeinschaftsrechts › I. Einleitung
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Das deutsche Umsatzsteuerrecht steht unter dem bestimmenden Einfluss des Europarechts. Während die Harmonisierung der direkten Steuern (vor allem der Einkommen- und Körperschaftsteuer) in der EU nicht weit fortgeschritten ist,[27] gilt für die Umsatzsteuer das Gegenteil. Art. 113 AEUV enthält insoweit einen Harmonisierungsauftrag, von dem die EU seit 1967 durch den Erlass von Richtlinien intensiven Gebrauch gemacht hat. Von besonderer Bedeutung war die sog. 6. EG-RL vom 17. Mai 1977.[28] Diese wurde ohne wesentliche inhaltliche Änderung durch die Mehrwertsteuersystemrichtlinievom 28. November 2006 (MwStSystRL) ersetzt.[29]
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Die MwStSystRL wurde seit ihrem Erlass mehrfach – teils tiefgreifend – geändert. Sie enthält sehr detaillierte Vorgaben für die Umsatzsteuerrechte der Mitgliedstaaten. Ein nennenswerter Spielraum der Mitgliedstaatenbei der Umsetzung der Richtlinie besteht nicht.[30] Als wesentliche Entscheidung verbleibt nur – in Grenzen – die Festlegung der Höhe des Steuersatzes in der Hand der Mitgliedstaaten.[31] Die nationalen Mehrwertsteuerrechte der EU-Mitgliedstaaten stimmen daher sehr weitgehend überein.
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Anders als eine Verordnung (s. dazu Art. 288 Abs. 2 AEUV) entfaltet eine Richtlinie grundsätzlich für Einzelne – Privatpersonen wie Unternehmen – weder eine verpflichtende noch eine berechtigende unmittelbare Wirkung. Sie bedarf vielmehr der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten in staatliches Recht. Für die Mitgliedstaaten sind Richtlinien hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, während die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung den Mitgliedstaaten überlassen ist (Art. 288 Abs. 3 AEUV).
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Der Grundsatz, dass eine Richtlinie für den Einzelnen keine unmittelbaren Wirkungen hat, gilt indessen nicht ohne Einschränkungen. Zunächst haben Finanzverwaltung und Finanzgerichte das deutsche Umsatzsteuerrecht richtlinienkonform zu interpretieren (s. dazu sogleich Rn 41 f). Im Einzelfall sind Richtlinienvorschriften zudem unmittelbar – mit Vorrang vor dem nationalen Recht – anzuwenden (s. dazu Rn 44).
§ 1 Einleitung› D. Einfluss des Gemeinschaftsrechts › II. Richtlinienkonforme Auslegung
II. Richtlinienkonforme Auslegung
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Nach Art. 288 S. 3 AEUV sind Richtlinien für die Mitgliedstaaten hinsichtlich der damit verfolgten Ziele verbindlich. Die staatlichen Organe müssen daher im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zur Umsetzung und Anwendung von Richtlinien beitragen. Für Finanzbehörden und Gerichte folgt daraus die Verpflichtung, das nationale Umsatzsteuerrecht im Lichte der europäischen Richtlinien auszulegen.[32] Die Verpflichtung ist auch aus Art. 4 Abs. 3 EUV herzuleiten, der für die Union und die Mitgliedstaaten den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aufstellt.[33] Für eine richtlinienkonforme Interpretation spricht schließlich, dass der nationale Gesetzgeber die von ihm erlassenen Regelungen im Zweifel im Einklang mit dem dadurch umgesetzten EU-Recht verstanden wissen will.[34] Im Gegensatz zur unmittelbaren Anwendung des Richtlinienrechts (dazu sogleich) kann eine richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen.[35]
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Über die richtlinienkonforme Auslegung der nationalen Umsatzsteuerrechte durch die Gerichte der Mitgliedstaaten wacht der EuGH. Bei Zweifeln darüber können die nationalen Gerichte den EuGH um Vorabentscheidungersuchen; ein in letzter Instanz entscheidendes Gericht ist zu dieser Vorlage verpflichtet (Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV).[36] Auf diesem Wege hat der EuGH in der Vergangenheit in großem Umfang zu Regelungen des deutschen Umsatzsteuerrechts Stellung genommen.
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Beispiel: Organgesellschaft
im Rahmen einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft kann nach § 2 Abs. 2 Nr 2 UStG nur eine „juristische Person“sein. Das Unionsrecht sieht diese Einschränkung, wie der EuGH festgestellt hat, nicht vor. Der BFH hat daher jüngst seine Rechtsprechung geändert und hält auch eine Personengesellschaftgrundsätzlich für geeignet, Organgesellschaft zu sein. Viele Einzelheiten sind aber (auch bei weiteren Voraussetzungen der Organschaft) noch unklar, s. im Einzelnen Rn 171.
§ 1 Einleitung› D. Einfluss des Gemeinschaftsrechts › III. Unmittelbare Anwendung von Richtlinienrecht
III. Unmittelbare Anwendung von Richtlinienrecht
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Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich der Steuerpflichtige unmittelbar auf eine Richtlinienbestimmung berufen, wenn der jeweilige Mitgliedstaat die Frist für die Umsetzung einer Richtlinie versäumthat, und wenn die Richtlinie hinreichend bestimmtgefasst und inhaltlich unbedingtist. Für die sehr detaillierten Vorgaben der MwStSystRL ist das Erfordernis einer hinreichenden inhaltlichen Bestimmtheit fast immer zu bejahen.[37] Unter den genannten Voraussetzungen ergibt sich ein Anwendungsvorrangeiner Richtlinienbestimmung gegenüber einer davon abweichenden nationalen Regelung.
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Ein Anwendungsvorrang kommt stets nur in Betracht, wenn die Richtlinie für den Steuerpflichtigen günstigerist als das nationale Recht. Eine steuerverschärfende unmittelbare Anwendung von Richtlinien durch die Finanzverwaltung scheidet aus.[38]
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Ob die Finanzgerichte und der BFH unter Berufung auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts dazu berufen sind, Vorschriften des deutschen Rechts aufgrund eigener Entscheidung unangewendet zu lassen, ist umstritten. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten (Gewaltenteilung) wird eine solche Entscheidung teilweise nur dann für zulässig gehalten, wenn zuvor der EuGH ausdrücklich zur Vorabentscheidung angerufen worden ist (Art. 267 AEUV).[39]
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Beispiel:
Art. 132 MwStSystRL sieht die Steuerbefreiung diverser dem Gemeinwohl dienender Umsätze vor. Die Mitgliedstaaten befreien danach u. a. eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbundene Dienstleistungen von der Steuer (Art. 132 Abs. 1 lit. h MwStSystRL). Der deutsche Gesetzgeber hat die Befreiung in § 4 Nr. 25 UStG zunächst nur unzureichend umgesetzt. Der BFH hat daher wiederholt entschieden, dass sich Unternehmer (u. a. der Betreiber eines Kinderheimes und ein Erziehungsbeistand) direkt auf das für sie günstige Richtlinienrecht berufen können.[40] Für die seit 2008 geltende Fassung des § 4 Nr. 25 UStG hat der BFH festgestellt, dass die Regelung bei entsprechender Auslegung (die das Finanzamt im entschiedenen Fall abgelehnt hatte) der Richtlinie entspricht. Für die unmittelbare Berufung auf Unionsrecht ist insoweit kein Raum mehr.[41]
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