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Eine klare Antwort auf die Vorsatzfrage könnte sich aus der dogmatischen Ausgestaltung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ergeben. Nicht nur das Mannesmann -Urteil, auch die im Zuge der EuGH-Rechtsprechung in Sachen Inspire Art [11], Centros [12] und Überseering [13] immer häufiger gestellte Frage nach den Grenzen zulässiger Fremdrechtsanwendung auch im Rahmen der Untreue, etwa im Fall des Geschäftsleiters einer EU-Auslandsgesellschaft,[14] haben das Problem der dogmatischen Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals in § 266 inzwischen erheblich an Aktualität gewinnen lassen. Es erstaunt nicht, dass sich in jüngster Zeit vermehrt Äußerungen zu dessen Rechtsnatur finden lassen.[15] Das Pflichtwidrigkeitsmerkmal der Untreue wird im Kontext verschiedener Sachfragen als normatives Tatbestandsmerkmal[16], als Blankett- bzw. „blankettartiges“ Merkmal[17] oder als gesamttatbewertendes Merkmal[18] eingestuft[19] – freilich nicht selten ohne nähere Begründung.
Auch in der Rechtsprechung lässt sich bislang keine einheitliche Antwort verzeichnen. Das OLG Stuttgart identifiziert § 266 im Hinblick auf die zeitliche Geltung von Strafgesetzen (§ 2 Abs. 3) „eindeutig“[20] als Blankettstrafgesetz, der 5. Strafsenat des BGH[21] und das BVerfG ordnen das Pflichtwidrigkeitsmerkmal im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 2 GG demgegenüber als ein („komplexes“[22]) normatives Tatbestandsmerkmal ein. Bezüglich des gesetzlichen Tatbestandes gem. § 16 Abs. 1 stehen nach wie vor kategorisierende Stellungnahmen in der Rechtsprechung aus.
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B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit
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Die Rechtsnatur des Pflichtwidrigkeitsmerkmals aus § 266 Abs. 1 wird in der vorliegenden Untersuchung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Vorsatzes („gesetzlicher Tatbestand“, § 16 Abs. 1 S. 1) erörtert. Durch den verweisenden Charakter des Pflichtwidrigkeitsmerkmals auf Vermögensbetreuungspflichten, die ihrerseits von unterschiedlichem Bestimmtheitsgrad geprägt und von verschiedenen Rechtssubjekten begründet (Private) bzw. erlassen (nationaler oder ausländischer Gesetzgeber) sein können, erfährt seine dogmatische Kategorisierung jedoch auch unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG („Garantietatbestand“) Relevanz.[23]
Teil 1 Einführung in die Problematik› B › I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)
I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)
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Die dogmatische Erfassung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist für die Funktion des Tatbestandes relevant, diejenigen Merkmale zu beschreiben, deren Unkenntnis vorsatzausschließend ist.[24] Die Pflichtwidrigkeit der untreuerelevanten Handlung muss nach § 15 vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Unbeantwortet bleibt insoweit allerdings, was der vorsatzrechtliche Bezugspunkt – der Gegenstand – des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist. Im Unterschied zum normativen Tatbestandsmerkmal, bei dem der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes – hier die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht – nach Laienart richtig erfassen muss,[25] sind im Fall der Qualifizierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals als Blankett nach h.M. geringere Anforderungen an den Vorsatz zu stellen. Ausreichend ist es, dass der Täter Kenntnis von den strafbarkeitsbegründenden bzw. pflichtwidrigkeitsbegründenden Tatsachen hat.[26] Dem entspricht nach überwiegender Ansicht die Einordnung der Pflichtwidrigkeit als ein tatbewertendes Merkmal: Der Täter muss zwar das rechtlich missbilligte Risiko, nicht aber dessen rechtliche Missbilligung erkannt haben.[27]
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In der Rechtsprechung wurde im vorsatzrechtlichen Zusammenhang auf eine dogmatische Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals bislang verzichtet. Lediglich als Indiz kann die rechtliche Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit der Untreue seitens der Gerichte gewertet werden. Wird ein solcher Irrtum als Tatbestandsirrtum[28] eingestuft, spricht dies für die Einordnung als normatives Tatbestandsmerkmal. Wird auf ihn hingegen die Rechtsfolge des § 17 angewendet,[29] liegt die Kategorisierung als Blankett- bzw. tatbewertendes Merkmal nahe.
Näher hat sich der 3. Strafsenat des BGH im Mannesmann -Urteil zur Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit geäußert. Dort führt er aus:
„Je nach dem Stand ihrer (Un-)Kenntnis von den Tatsachen und der eigenen (Fehl-) Bewertung ihres Verhaltens könnten [die Angeklagten] in einem den Vorsatz und damit die Strafbarkeit ausschließenden Tatbestandsirrtum (§§ 15, 16 StGB) oder in einem vermeidbaren oder unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gehandelt haben. Die Abgrenzung im Einzelnen dürfte sich als schwierig erweisen, wie dies bei Tatbeständen mit stark normativ geprägten objektiven Tatbestandsmerkmalen (hier in § 266 Abs. 1 StGB die Verletzung der Pflicht, die Vermögensinteressen wahrzunehmen) häufig der Fall ist und gerade für den zu beurteilenden Sachverhalt auch durch entgegen gesetzte Stellungnahmen in der Literatur belegt wird.“[30]
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Die Pflichtverletzung des § 266 stellt laut BGH ein „stark normativ geprägt[es] objektives Tatbestandsmerkmal“[31] dar. Prima vista fasst der BGH damit die Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal auf. Allerdings sagt die Normativität eines Tatbestandsmerkmals noch wenig über den Charakter des Merkmals aus. Auch Blankett- bzw. tatbewertende Merkmale sind insofern „normativ“, als sie durch die Hinzunahme einer außertatbestandlichen Wertung auszufüllen sind. Zudem stimmt die Einordnung der Pflichtverletzung als normatives Tatbestandsmerkmal nicht mit den Ausführungen des BGH zum Irrtum über die Pflichtverletzung überein:
„Die Annahme etwa, dass jede (worin auch immer begründete) fehlerhafte Wertung, nicht pflichtwidrig zu handeln, stets zum Vorsatzausschluss führt, weil zum Vorsatz bei der Untreue auch das Bewusstsein des Täters gehöre, die ihm obliegende Vermögensfürsorgepflicht zu verletzen, kann nicht überzeugen. Umgekehrt könnte der Senat auch der Auffassung nicht folgen, dass es für die Bejahung vorsätzlichen Handelns ausreicht, wenn der Täter alle die objektive Pflichtwidrigkeit seines Handelns begründenden tatsächlichen Umstände kennt und dass seine in Kenntnis dieser Umstände aufgrund unzutreffender Bewertung gewonnene fehlerhafte Überzeugung, seine Vermögensbetreuungspflichten nicht zu verletzen, stets nur als Verbotsirrtum zu werten ist.“[32]
Der Irrtum darüber, nicht pflichtgemäß zu handeln, führt nach Auffassung des 3. Strafsenats also keineswegs stets zu einem Tatbestandsirrtum. Dies wäre hingegen die zwingende Folge des Irrtums über ein normatives Tatbestandsmerkmal. Der BGH ist vielmehr geneigt, diesen Irrtum als Verbotsirrtum zu bewerten:[33]
„War den Präsidiumsmitgliedern – was allerdings kaum anders vorstellbar sein dürfte – bewusst, dass die Sonderzahlungen für die Mannesmann AG in der gegebenen Situation (Übernahme des Unternehmens durch Vodafone und Ausscheiden von Dr. Esser) ohne jeden Nutzen war, so dürfte ihre irrige Annahme, zur Bewilligung der Prämien gleichwohl berechtigt gewesen zu sein, den Vorsatz unberührt lassen und lediglich einen Verbotsirrtum begründen.“ [34]
Deutet man die Kenntnis von der Nutzlosigkeit der Sonderzahlung als ausreichende, „laienhafte“ Bewertung des Tatbestandsmerkmals „Pflichtverletzung“,[35] entspräche das Vorstellungsbild der Täter nicht nur den vorsatzrechtlichen Voraussetzungen eines Blankett- bzw. tatbewertenden Merkmals, sondern zugleich denen eines normativen Tatbestandsmerkmals. Zu dieser Sachverhaltsinterpretation – ohne dies als Revisionsinstanz feststellen zu müssen[36] – neigt der 3. Strafsenat :
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