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In keinem Fall darf die Geschäftsherrenhaftung als Pflicht zur Verhinderung jedweder Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten untergeordneter Mitarbeiter missverstanden werden.[65] Vielmehr geht es allein um die Unterbindung betriebsbezogener Verstöße gegen rechtliche Vorgaben; die Gewährleistung einer rechtstreuen Lebensführung ist keine Aufgabe der Unternehmensleitung.[66] Ein solcher Bezug dient dazu, den Pflichtenkreis konkretisierend einzuengen und den Anwendungsbereich des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts auf den eigentlichen Grund der Haftung zu reduzieren: die „Gefahrenquelle Unternehmen“.[67] Das Kriterium liegt vor, wenn die Straftat oder Ordnungswidrigkeit in einem, konkret und nicht abstrakt zu bestimmenden, inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit des Handelnden steht; ein Handeln nur bei Gelegenheit – etwa das Bestehlen eines Geschäftspartners bei Vertragsverhandlungen – genügt nicht.[68] Insofern ist zu verlangen, dass der Mitarbeiter im vermeintlichen wirtschaftlichen Interesse des Betriebes handelt, denn die Verfolgung dieser Interessen ist der eigentliche Zweck einer solchen Organisation. Ob in BGHSt 57, 42 ff. die Betriebsbezogenheit vorlag, ist daher zweifelhaft, selbst wenn man den Standpunkt einnimmt, das Mobbing hätte gerade den Arbeitsplatz als Tatort benötigt.[69] Ein innerer Zusammenhang mit der „Gefahrenquelle Unternehmen“ ist hier jedoch nicht gegeben, da sich letztlich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht, welches allenfalls mittelbar mit der dem Unternehmen eigenen wirtschaftlichen Zweckverfolgung zu tun hat. Anderes mag gelten, wenn derartige Praktiken seitens der Unternehmensleitung angewiesen oder arbeitstechnische Machtbefugnisse zur Tatbegehung ausgenutzt werden, um missliebige Mitarbeiter aus dem Unternehmen zu drängen.[70]
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Aus Sicht der Verteidigung kommt es deshalb darauf an, Reichweite und Grenzen der Garantenpflicht zu markieren und darauf zu drängen, dass nicht bereits die Leitungsmacht als solche oder allenfalls entfernt mit der Gefahrenquelle Unternehmen in Verbindung stehende Umstände zur Haftungsbegründung herangezogen werden. Namentlich dieser innere Zusammenhang ist seitens der Staatsanwaltschaften und Gerichte darzulegen und nachzuweisen und nicht etwa umgekehrt seitens des Beschuldigten zu widerlegen.
cc) Sonderfall der Überwachergarantenstellung: Compliance-Officer
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In den letzten Jahren wird über die Garantenstellung des Compliance-Officers diskutiert, der freilich im Regelfall nicht unmittelbar in der Leitungsebene eines Unternehmens angesiedelt ist, umgekehrt aber auch nicht als subalterner Mitarbeiter eingeordnet werden kann (siehe auch Rn. 458 f.sowie Rn. 634 ff.). Compliance dient der Unterbindung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zum Nachteil außerhalb des Unternehmens stehender Personen oder Entitäten, selbst wenn unternehmensseitig das wesentliche Motiv in der Vermeidung von Sanktionen und Imageschäden zu sehen ist.[71] Die Diskussion hat noch an Intensität zugenommen, nachdem der BGH in BGHSt 54, 44, 48 ff. – Berliner Stadtreinigung – vor einigen Jahren in einem obiter dictum eine solche Möglichkeit angesprochen hatte.[72] In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt selbst ging es gar nicht um einen Compliance-Officer, sondern um den Leiter der Rechtsabteilung und Innenrevision eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens; gerade dieser Aspekt wurde daraufhin vom BGH zur Begründung der Garantenstellung herangezogen, da bei öffentlich-rechtlichen Unternehmen der Gesetzesvollzug Kern der Entfaltung unternehmerischer Tätigkeit sei.[73] Im Zentrum der weiteren Diskussion stand dann jedoch vor allem das kryptische obiter dictum, in dem nicht klargestellt wurde, ob die Haftung in einem solchen Fall derivativ auf einer Delegation der dem Unternehmen und seinen Organen obliegenden Pflichten oder originär auf dem Arbeitsverhältnis samt tatsächlicher Übernahme der hierdurch begründeten Verpflichtungen basiert:
[BGHSt 54, 44, 49 f.]
„Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich aus dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche übernommen hat. Dabei ist auf die besonderen Verhältnisse des Unternehmens und den Zweck seiner Beauftragung abzustellen. Entscheidend kommt es auf die Zielrichtung der Beauftragung an, ob sich die Pflichtenstellung des Beauftragten allein darin erschöpft, die unternehmensinternen Prozesse zu optimieren und gegen das Unternehmen gerichtete Pflichtverstöße aufzudecken und zukünftig zu verhindern, oder ob der Beauftragte weitergehende Pflichten dergestalt hat, dass er auch vom Unternehmen ausgehende Rechtsverstöße zu beanstanden und zu unterbinden hat. Unter diesen Gesichtspunkten ist gegebenenfalls die Beschreibung des Dienstpostens zu bewerten. Eine solche, in Großunternehmen als „Compliance“ bezeichnete Ausrichtung, wird im Wirtschaftsleben mittlerweile dadurch umgesetzt, dass sogenannte „Compliance Officers“ geschaffen werden (...) Deren Aufgabengebiet ist die Verhinderung von Rechtsverstößen, insbesondere auch von Straftaten, die aus dem Unternehmen heraus begangen werden und diesem erhebliche Nachteile durch Haftungsrisiken oder Ansehensverlust bringen können (...) Derartige Beauftragte wird regelmäßig strafrechtlich eine Garantenpflicht im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB treffen, solche im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Unternehmens stehende Straftaten von Unternehmensangehörigen zu verhindern. Dies ist die notwendige Kehrseite ihrer gegenüber der Unternehmensleitung übernommenen Pflicht, Rechtsverstöße und insbesondere Straftaten zu unterbinden (...).“[74]
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Bei einer originär auf den Arbeitsvertrag samt tatsächlicher Übernahme gestützten Garantenstellung bestünde die Möglichkeit, dass für den Compliance-Officer Verpflichtungen begründet werden, die noch über die den Geschäftsherrn treffenden Pflichten hinausgehen.[75] Hiermit wäre das Tor für eine zivilrechtlich induzierte, inflationäre Statuierung von Garantenpflichten geöffnet, was umso bedenklicher erscheint, als Compliance ohnehin die Tendenz zu einer Pflichtenexpansion eigen ist. Die besseren Gründe dürften deshalb dafür sprechen, vom derivativen Erwerb einer Überwachergarantenpflicht im Sinne der Geschäftsherrenhaftung auszugehen.[76] Denn bei einem solchen Ansatz wird der Bezug zur allgemeinen und weitgehend konsentierten Geschäftsherrenhaftung hergestellt, womit der im Anschluss an diese Entscheidung entstandenen und partiell durchaus interessegeleiteten Hysterie der Boden entzogen ist.[77] Dass der Geschäftsherr hierdurch keineswegs seine eigene Garantenstellung einbüßt, sondern ihn nach wie vor Auswahl-, Instruktions-, Kontroll- und Aufsichtspflichten treffen, ergibt sich aus allgemeinen Grundsätzen.[78] Er vermag seine Pflichten zwar zu delegieren, verliert hierdurch aber nicht den Status als Garant.[79]
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Allerdings muss der Compliance-Officer den Pflichtenkreis tatsächlich übernommen haben, während die bloße Denomination nicht genügt.[80] Eine Haftung ist überdies nur anzuerkennen, wenn die delegierte Pflicht auf die Unterbindung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten gerichtet ist, was entsprechende Entscheidungs- und Weisungsbefugnisse voraussetzt.[81] Sollte der Compliance-Officer im Zuge seiner Tätigkeit auf Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten der Unternehmensmitarbeiter stoßen, wird im Regelfall aber die Benachrichtigung der Unternehmensleitung genügen.[82] Eine Information von Strafverfolgungsbehörden oder gar der Öffentlichkeit ist nicht erforderlich (siehe auch Rn. 39 ff., Rn. 46 ff.).[83] Soll der Compliance-Officer die Unternehmensleitung im Umgang mit straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Risiken lediglich beraten, scheidet die Inanspruchnahme als Garant aus.[84]
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Aus Verteidigungssicht kommt es darauf an, den übertragenen Pflichteninhalt exakt zu extrapolieren, um auf diese Weise zu verhindern, dass dem vertretenen Compliance-Officer im Strafverfahren überbordende Pflichten auferlegt werden. Insbesondere ist auf die derivative Natur der Pflicht zu insistieren, damit die Haftung des Compliance-Officers nicht weiter als die des Geschäftsherrn reicht. Zudem ist Tendenzen entgegenzutreten, eine straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortlichkeit allein auf die Denomination als Compliance-Officer zu stützen. Daher wird relevant, ob unternehmensseitig die zur Pflichterfüllung erforderlichen Befugnisse und sachlichen wie personellen Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden.
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